Achromes
Manzonis Malerei ohne Farbe
Bis zu Manzonis Tod im Jahr 1963 entstehen über 600 „Achromes“. Beinahe die Hälfte seines Œuvre gehört dieser Werkgruppe an. Sie stehen für eine direkte, unvermittelte Materialität. Obwohl scheinbar nicht weiter reduzierbar, geben sie doch zu immer neuen Bildschöpfungen Anlass. Die malerische Reduktion wird für Manzoni zum Vehikel, um die Malerei zu überwinden und sich in die dritte Dimension vorzuwagen. Noch bis Sonntag, den 22. September 2013, sind 43 „Achromes“ in der Manzoni-Retrospektive im Städel Museum zu sehen.
Franziska Leuthäußer | 06.09.2013
Malerei ohne Pinsel und ohne Farbe
Nach 1956 wurde die figurative surreale Malerei, die Piero Manzoni (1933–1963) im Umfeld der Arte nucelare, einer italienischen Kunstbewegung, geschaffen hatte, immer abstrakter. Sie entwickelte sich schließlich zu einer Malerei ohne Pinsel und ohne Farbe. Die ersten „achromen“ Bilder fertigte er 1957 mit Gips. Einzig die Struktur, die durch die Eigenschaften des Materials ganz automatisch entstand, wurde zum gestalterischen Element seiner Arbeiten. Bisweilen fügte Manzoni geometrische Ritzungen hinzu oder teilte das Bild durch eine horizontale Linie.
Ab 1958 verwendete er für seine „Achromes“ ausschließlich Kaolin. Dieses Material, was auch zur Keramikherstellung verwendet wird, hatte Manzoni in Albisola Marina, einem Urlaubsort und später auch Künstlertreff in Ligurien, wo er bereits als Kind mit seinen Eltern die Sommerferien verbracht hatte, entdeckt.
Von der zweidimensionalen Fläche zum dreidimensionalen Körper
Zwar waren seine Bilder zu diesem frühen Zeitpunkt noch mehr Fläche als Körper, der Einsatz von Gips und Kaolin als künstlerisches Material gibt aber bereits die Richtung an, in die sich das Werk Manzonis in den nächsten Jahren entwickeln sollte. Außer der Fläche – bestehend aus der gespannten Leinwand –, ließ Manzoni alle Eigenschaften der Malerei hinter sich und arbeitete sich von der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität vor, indem er die Leinwände erst horizontal faltete und später aus einzelnen Leinwandquadraten zusammensetzte.
Endgültig löste er sich von tradierten Vorstellungen der Malerei, als er 1959 ihr Trägermaterial, namentlich die ungrundierte Leinwand, als vollendetes Kunstwerk präsentierte. Gleich einem behauenen Marmorblock oder einer gegossenen Bronze, so erklärte Manzoni auch die Leinwand zu einem Material oder Stoff, aus dem allein durch die künstlerische Bearbeitung, etwa das Aufspannen auf den Keilrahmen oder das Unterteilen mit der Nähmaschine, ein Bild oder Bildobjekt entsteht – ganz ohne Malerei.

Achrome Materialschlacht: Piero Manzoni (1933–1963); Achrome, 1962; Steine und Kaolin auf Leinwand, 70 x 50 cm; Fondazione Piero Manzoni, Mailand, in Zusammenarbeit mit Gagosian Gallery; © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Achrome Materialschlacht
Wenn diese von Manzoni aufgestellte Behauptung einmal nachvollzogen ist, scheint die Verwendung von immer neuen Materialien nicht nur konsequent, sondern geradezu notwendig. Denn durch die Verarbeitung von Baumwollwatte, Styropor, Seide, Kunstfaser, Kaninchenfell oder Kieselsteinen beweist Manzoni, dass jedes Material zu Kunst und mindestens alles Unfarbige zu einem „Achrom“ werden kann.
„Achrom“ ist eine Wortschöpfung Manzonis, die Titel für mehr als 600 Arbeiten wurde. Im Gegensatz zu monochrom bedeutet es nicht einfarbig, sondern „unfarbig“, also „ohne Farbe“. Dabei sind die „Achromes“ Manzonis keineswegs farblos. Die aus Kobaltchlorid, eine chemische Verbindung aus Cobalt und Chlor, gefertigten Arbeiten, sind geradezu bunt, wenn sie sich bei Veränderung der Luftfeuchtigkeit von blau zu rosa färben.
Nach dem „Achrom“ wird die gesamte Welt zum Kunstwerk
Dass jeder Alltagsgegenstand zur Kunst erhoben werden kann, lehrte bereits das Duchamp’sche Ready-made. Manzoni führte diesen Diskurs aber sehr viel weiter. Seine Behauptung, dass alle Materialien ohne Farbe durch eine künstlerische Anordnung, die gleichsam als Teilung oder als Ansammlung gelesen werden kann, zum „Achrom“ werden können, findet seine Entsprechung in anderen Arbeiten des Künstlers wie beispielsweise der „Merda d’artista“ (Künstlerscheiße, 1961) oder dem „Socle du monde“ (Sockel der Welt, 1961). Es ist also erstens die Behauptung, dass etwas so sei und zweitens die Benennung des Künstlers, die nicht nur den Beweis, sondern auch das Resultat der Behauptung liefert.
Bei Manzoni läuft es schließlich auf ein Unendlichkeitsprinzip hinaus. Das wird nicht nur in einzelnen Werkgruppen deutlich, wie etwa jener der „Unendlichen Linien“ (Linea di lunghezza infinita, 1960), sondern manifestiert sich grundsätzlich in seinen seriell angelegten Arbeiten, die als unendliche weitere Varianten denkbar sind.

Von der Fläche zum Körper: Piero Manzoni (1933–1963); Achrome, 1958; Kaolin auf Leinwand, 50 x 69,5 cm; Fondazione Piero Manzoni, Mailand, in Zusammenarbeit mit Gagosian Gallery; © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Franziska Leuthäußer ist als wissenschaftliche Volontärin im Städel Museum tätig und überlegt, wie man sich die Unendlichkeit vorstellen kann.
Die Ausstellung Piero Manzoni. Als Körper Kunst wurden ist noch bis Sonntag, 22. September 2013 im Städel Museum zu sehen. Auf der Seite Manzoni connected könnt Ihr übrigens schon jetzt einen digitalen Blick auf Manzonis Werke werfen und dabei spannende Verbindungen zu anderen Werken aus der Städel Sammlung entdecken.
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