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Ironie als subversiver Akt der Aktivierung: Erwin Wurm. Foto: Katrin Binner

Der Österreicher, insbesondere der Wiener, macht sich ja gerne lustig – vor allem über andere. Vordergründig wird er da beim Werk von Erwin Wurm gut bedient. Wer sieht denn nicht gerne jemand anderen mit einem Spargel in der Nase, einem Kübel am Kopf oder einen Kleiderhaken im Mund. Was ist also von einem österreichischen Staatspreisträger zu halten, der sich als „Essiggurkerl“ selbstporträtiert, oder sich als Künstler des Jahres Bananen in den Schritt, in die Achseln und den Mund klemmt?

Humor stellt eine überraschend aktivierende, intellektuelle Verbindung her. Den Menschen begegnet der Österreicher Erwin Wurm insofern zuallererst mit Ironie als einen subversiven Akt der Aktivierung und Infiltration ihrer Gedanken und Wahrnehmungen.

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Die klassische Kunstgattung der Skulptur wird fundamental erweitert, gedehnt, verformt, der Skulptur verschiedene andere Medien einverleibt und sie in Skulptur transformiert. Foto: Katrin Binner

Komisch, absurd, skurril

Was aber der Große Staatspreisträger insbesondere erreicht hat, ist etwas weit außerösterreichisches: Erwin Wurm hat eine künstlerische Sprache gefunden, die universal ist und umfassend verstanden wird. Ihr Bezugssystem ist überall gleich rezipierbar. Erwin Wurms Schaffen und sein Wirken ist so international, erfolgreich und folgenreich wie bei keinem anderen lebenden österreichischen Künstler. Ohne Dialekt, ohne Nostalgie, ohne selbstzerstörerischen Pessimismus konfrontiert er ein weltweites Publikum in einer künstlerischen Sprache, die global verständlich, rasch erfassbar und aufmerksamkeitsstark ist. Von Bogota bis Tokyo, von New York bis Sidney, von Los Angeles bis Peking wird in den Museen, Galerien, Ausstellungshäusern, Biennalen und öffentlichen Plätzen der Welt über Erwin Wurms Arbeiten gestaunt, geschmunzelt, gelacht. Sie sind komisch, absurd, skurril.

Die Erschütterung der Betrachter stellt sich bald als immanente Nebenwirkung ein, wenn diese merken, dass es bei den vermeintlich amüsanten Skulpturen ja um sie selbst geht. Das Thema, das diese Werke in sich tragen, ist unsere Gefangenheit und Befangenheit, unsere grundlegende soziale Deformation und Verbiegung des Individuums.

Wurms Skulpturen sind Ausformungen der physischen und psychischen menschlichen Befindlichkeit und der Ausformulierung derselben durch körperliche Ent- und Verwicklungen. Erwin Wurms Arbeit ist eine perfide Einladung zur Selbstentblößung und Selbsterkenntnis. Der Künstler entwickelt so ein Skulpturenprogramm zur behavioristischen Untersuchung des menschlichen Verhaltens. Sein Werk befasst sich mit den Menschen und ihren objektgewordenen Attributen: Körper, Alltagsgegenstände, Fortbewegungsmittel, Behausungen schmelzen, verbiegen, verfetten, verengen sich, um sich einer eingespielten und festgelegten Übereinkunft über ihre Funktion, Aufgabe und Wahrnehmung zu entziehen. Solchermaßen befreit, relativieren sie unsere Erwartung was wahr, beständig und sinnvoll ist.

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Unter den klaren Instruktionen des Künstlers sind wir plötzlich bereit, vor der Öffentlichkeit alle erprobten Hüllen fallen zu lassen. Foto: Katrin Binner

Die Unmöglichkeit des freien Willens

Der Künstler führt uns die Unmöglichkeit des freien Willens, die Inexistenz des unbefangenen, selbstbestimmten Individuums vor Augen – und provoziert unsere Bereitwilligkeit unter seinen Instruktionen und Anleitungen Freiheit und Katharsis zu finden. Wir sind bereit plötzlich unter den klaren Instruktionen des Künstlers vor der Öffentlichkeit alle erprobten Hüllen fallen zu lassen, uns zu entblößen.

Zum „Luft anhalten und an Spinoza denken“ wurden die Besucher bereits 1998 von Erwin Wurm aufgefordert. Er wusste, mit welchem willenlosen Herdenpublikum er es zu tun hat und das es klare Anweisungen braucht, um überhaupt wieder zum Individuum zu werden. Es ist die aufoktroyierte Handlung, die es ermöglicht eine neue, authentische Haltung einzunehmen und damit eine reflektierte, eigenständige Wahrnehmung zu entwickeln.

Wurms Arbeiten sind Anweisungen zum wieder menschlicher werden, um Hüllen und Schutzpanzer fallen lassen. Wurm hat es dabei geschafft einem großen Publikum in einer enorm suggestiven Art die eigene Tragik unserer sozialen Verfasstheit vor Augen zu führen und gleichzeitig aber auch einen kathartischen Impuls der Selbstregulierung anzubieten. Er hat der Philosophie und der Psychologie unserer menschlichen Existenz ihre skulpturale Form gegeben. Wurms Skulpturwerk ist nicht nur von seiner Wirkungskraft und Aussage ein perfides trojanisches Pferd, sondern eine radikale Entwicklung und Erweiterung der skulpturalen Form und Handlung.

Erwin Wurm zeigt in weltweiten Ausstellungen und vertreten in den bedeutendsten Museumssammlungen einen faszinierenden und hochbedeutenden Skulpturenbegriff. Er hat die klassische Kunstgattung der Skulptur fundamental erweitert, gedehnt, verformt, der Skulptur verschiedene andere Medien einverleibt und sie in Skulptur transformiert. Seine skulpturale Praxis vereinnahmt normalerweise davon abgetrennte Medien wie Text, Video, Architektur, Fotografie und jüngst wieder Malerei und Schauspiel als integrale Bestandteile eines umfassenden Skulpturenprogramms.

„Form follows function“ hieß der Gestaltungssatz der kühlen Moderne. Erwin Wurm hat für das Dysfunktionale des menschlichen Individuums die richtige Form gefunden. Wurms Arbeiten, Wurms Skulpturen sind – für den Künstler, den Protagonisten als auch den Betrachter – immer riskant in ihrem Aggregatszustand, ihrer zeitlichen Verfasstheit, ihrer Thematik, ihrer intimen Funktion und ihrem Potential zur Peinlichkeit innerhalb der Öffentlichkeit. Es sind temporäre Zustände des skulpturalen Ausgesetztseins, der labilen Anordnung.

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Ein Skulpturbegriff zwischen Bronze und zeitlich höchst begrenzten performativen Daseinszuständen. Foto: Katrin Binner

Aus dem Gleichgewicht kommen

Wurm stützt einen hochkant gestellten VW Golf nur mit einem Edding-Stift als Künstlerutensil an der Wand ab, er lässt ein Haus kopfüber auf einem Museumsdach balancieren, Wurm verdreht, wölbt aus, dehnt, verengt, mutiert, umspannt. Dabei erreicht er ein aus der Form und Funktion Treten des Objekts genauso wie des Individuums. Es sind physische Reaktionen auf latente psychische Deformationen. Die Masse verliert Definition und Klarheit, die Form zerfließt und mutiert, der Normierung wird der funktionale Boden entzogen. Alltagsobjekte, Alltagsleben, alltägliche Verrichtungen entwickeln sich zu einem provokativen, subversiven, labilen skulpturalen Zustand unserer eigenen prekären Verfasstheit. Es ist eine fortwährende skulpturale Aktion, um aus dem Gleichgewicht zu kommen.

Dabei zeigt Wurms Skulpturbegriff nicht nur das Potenzial alle anderen künstlerischen Ausdrucksformen in sich aufzunehmen und nutzbar zu machen. Ebenso rangieren seine Skulpturformate in der Dimension von dem nahezu Nichts oder Inexistenten wie in den „One Minute Sculptures“ oder den Staubskulpturen bis zur totalen Massivität der „Fat Houses“ und „Cars“. Materie wird zum extremen Anwachsen gebracht oder auch auf das Minimum reduziert.

Seine Arbeiten können sowohl für die Ewigkeit aus den haltbarsten Materialen wie Bronze sein, genauso wie sie nur ephemere, zeitlich höchst begrenzte performative Daseinszustände einnehmen. Wurms Skulptur hat das Potential, die unterschiedlichsten Stadien der räumlichen und zeitlichen Dimension einzunehmen. Sein Werk ist gespeist von einer faszinierenden Multiplizität von kunsthistorischen Einflüssen und Exkursionen und vereint Elemente des Surrealismus, der Konzeptkunst, der Performance und Body Art, der Institutional Critique und der Relational Aesthetics. Umso beeindruckender, dass die originären Werke von Wurm und seine Autorenschaft sofort erkennbar sind.

Herausragend war die Adaption des Wurmschen Skulpturbegriffs durch die Rockband Red Hot Chili Peppers in ihrem enorm populärem Video “Can’t Stop”. Eine solche Aufnahme und Sampling eines Kunstbegriffs und einer künstlerischen Handschrift in eine omnipräsente Populärkultur wäre für so manchen anderen Künstler das Ende gewesen. Wurms Werke hingegen, die selbst immer mit dem Thema und dem Vehikel der Aufmerksamkeit spielen und diese nutzen, konnten die Aufmerksamkeit gut verkraften, ja es bestärkte sie vielmehr. Unsere aktuellen sozialen Medien, YouTube, Instagram sind mittlerweile Wurm Land. Es gibt unzählige Nachmacher, Nachsteller, Nachempfinder, die sein Werk auf diese Weise fortführen. Große Missverständnisse miteingeschlossen.