Als habe Pierre-Auguste Renoir für einen kurzen Moment die Zeit angehalten: Das Anzünden der Zigarette und der erste Schluck vom Digestif – der Maler macht die wohlige Entspannung nach einem üppigen Essen zum Hauptthema seiner Darstellung. Die Kaffeespuren an den Tassen und ein letzter Rest im Weinglas, die ausladenden Karaffen und der blühende Kastanienstrauch wirken als Bildelemente zusammen. Dadurch entsteht eine sinnliche Atmosphäre, die diesen Restaurantbesuch im Frühling zu einem genussvollen Augenblick werden lässt – auch für die Betrachter.

Pierre-Auguste Renoir, Nach dem Mittagessen (La fin du déjeuner), 1879, Städel Museum, Frankfurt am Main

Café, Cigarette, le Savoir-vivre: Noch heute wirkt die gelöste Atmosphäre derart einladend, dass man sich selbst an diesen Ort wünscht. Doch wo malte Renoir seinen Bruder Edmond, die Schauspielerin Ellen Andrée und das Modell Marguerite Legrand? Renoirs Freund, der Kunstkritiker George Rivière, schrieb 1921:

„Dieses bezaubernde Bild ist im Garten des Cabaret d’Olivier am Montmartre entstanden, in einer Gartenlaube, in der wir oft aßen, als Renoir noch in der Rue Cortot wohnte.“

Auch wenn Riviére den Ort benannt hat, war lange Zeit ein Rätsel, wo und was das „Cabaret d’Olivier“ war. Doch bei der Recherche zur Ausstellung „RENOIR. ROCOCO REVIVAL“ fand sich endlich der entscheidende Hinweis in einem alten Katalog: Das Bild sei an der Ecke der Rue des Saule und Rue Saint-Rustique entstanden. Startschuss für eine Spurensuche im digitalen Zeitalter! Einen ersten prüfenden Blick ermöglichte Google Streetview. Gerade einmal zwei Gehminuten ist Renoirs damaliges Zuhause im heutigen Musée de Montmartre von jener Pariser Straßenecke entfernt. Noch heute befinden sich dort zwei Restaurants. Der Blick aufs Gelände zeigt: Eines verfügt sogar über einen Garten mit üppigen Bäumen und Sträuchern.

Die Restaurants La Bonne Franquette und Le Consulat an der Ecke Rue des Saules und Rue Saint-Rustique, Paris, Frankreich, 2022
Blick auf den Garten des Restaurants La Bonne Franquette in der Rue des Saules, Paris, Frankreich, 2022
Satellitenaufnahme mit Blick auf die Rue des Saules und Rue Saint-Rustique, Paris, Frankreich, 2022
Fußweg von der Ecke Rue des Saules und Rue Saint-Rustique zum Musée de Montmartre, Paris, Frankreich, 2022

In der Tat wirbt die Website des begrünten Restaurants „La Bonne Franquette“ damit, dass hier Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein- und ausgingen. Doch es soll nicht „Cabaret d’Olivier“ sondern „Aux Billards en Bois“ geheißen haben. Auch wenn bekannt ist, dass Renoir Billard spielte, brachte dieser Hinweis keine Gewissheit.

Blick auf das Restaurant La Bonne Franquette an der Ecke Rue des Saules und Rue Saint-Rustique, Paris, Frankreich, 2022

Etwa zur gleichen Zeit als George Rivière seine Erinnerungen zum Entstehungsort von Nach dem Mittagessen festhielt, durchstreifte Eugène Atget die Straßen von Paris mit seiner Kamera. Sein Interesse galt den älteren Gebäuden, die noch nicht der Modernisierung des Stadtplaners Georges-Eugène Haussmann zum Opfer gefallen waren. Viele seiner Fotografien befinden sich heute im digitalen Bestand des New Yorker Museums of Modern Art. Und tatsächlich: Ein Foto mit dem Titel Cabaret zeigt das „Aux Billards en Bois“ im Jahr 1922. Verlassen sieht es aus, die Scheiben im zweiten Stockwerk sind zerbrochen. Ein Zoom auf die Fassade untermauert schließlich die Vermutung: Neben Hinweisen auf Garten, Küche und Wein steht dort, es sei das alte Haus eines gewissen Monsieur Chevrot… Olivier Chevrot!

Eugène Atget, Montmartre, cabaret, rue St.-Rustique, 1922, Abbott-Levy Collection. Partial gift of Shirley C. Burden, The Museum of Modern Art, New York

Letzte Gewissheit brachte der Kontakt zu den aktuellen Besitzern des Restaurants, die bestätigen konnten: Zu Renoirs Zeiten war das Restaurant gemeinhin auch als „Le Cabaret d’Olivier“ bekannt.

Treffpunkt der Künstler und Boheme

Nicht nur Pierre-Auguste Renoir gehörte einst zu den Stammgästen des „Cabaret d’Olivier“. Auch die Malerkollegen Camille Pissarro, Alfred Sisley, Paul Cézanne und Henri de Toulouse-Lautrec sowie der Schriftsteller Émile Zola verkehrten hier. Sicher zogen die moderaten Preise wie auch der großzügige Garten mit seinen Bäumen die Bohemiens an, die häufig am Existenzminimum lebten und doch das schöne, unbeschwerte Leben genossen. Künstler konnten hier wichtige Kontakte knüpfen und neue Gesichter für ihre Bilder finden: Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass Renoir unter den hübsch gekleideten Besucherinnen einige neue Modelle ausmachte. Der häufig unter Geldnot leidende Maler bot ihnen anstelle eines Honorars nicht selten ein Porträt oder einen modischen Hut an – die meisten entschieden sich für Letzteres.

Nur eine Straßenecke vom einstigen „Cabaret d’Olivier“ entfernt befindet sich die Moulin de la Galette – jene alte Mühle, deren Tanzlokal sonntags die Pariser der gehobenen Gesellschaft in Scharen anzog. Auch Pierre-Auguste Renoir mischte sich regelmäßig unter die Gäste und malte dort in zahlreichen Sitzungen ein eindrucksvolles Stimmungsbild. Renoirs Sohn Jean erinnerte sich daran, wie sein Vater für sein Gemälde Bal du moulin de la Galette eine 1,70 m breite Leinwand durch die Straßen des Montmarte trug. Auf dem Nachhauseweg sei er wiederum gerne im „Cabaret d’Olivier“ eingekehrt. In dessen Garten verpasste Renoir seinem berühmten Werk sogar den letzten Schliff!

Pierre-Auguste Renoir, Bal du moulin de la Galette, 1876, Legs Gustave Caillebotte, 1894, Musée d’Orsay, Dist. RMN-Grand Palais Patrice Schmidt

Auch La Balançoire wurde im „Cabaret d’Olivier“ vollendet – im gleichen Garten, in dem das Städel-Werk Nach dem Mittagessen entstanden ist. In der Ausstellung „RENOIR. ROCOCO REVIVAL“ sind die beiden Bilder wieder vereint.

Pierre-Auguste Renoir, Die Schaukel (La Balançoire), 1876, Musée d’Orsay, Paris, Legs Gustave Caillebotte, 1894, bpk  RMN – Grand Palais  Patrice Schmidt

Sorgenfrei und glückverheißend: Bis heute wecken Renoirs Bilder vom Leben am Pariser Montmartre die Sehnsucht nach solchen Orten. Nun ist ein weiterer Schauplatz gefunden. Der Garten des ehemaligen „Cabaret d’Olivier“ ist inzwischen zwar einem Anbau gewichen, dennoch versprechen Wein und Käse, Chansons und Cabaret typisch französische Momente. Die fand hier übrigens auch Charles Aznavour: Der Sänger lebte 1946 über dem Restaurant, als Edith Piaf ihn kennenlernte. Sie hatte bereits fünf Jahre zuvor dort den Film „Montmartre-sur-Seine“ gedreht.