Fotografie im Städel
150 Jahre Dornröschenschlaf
Das Städel beherbergt eine der bedeutendsten Fotografiesammlungen in Deutschland. Dass diese Bilder gleichberechtigt neben Gemälden hängen, ist jedoch relativ neu – und das Resultat einer turbulenten Geschichte.
Kristina Lemke | 13.04.2018
Wer kennt das nicht: Jahrelang verschwindet ein alter Pullover in den hinteren, dunklen Ecken des Kleiderschranks und beim Umzug fällt er einem in die Hände und wird als Neuentdeckung gefeiert? So erging es auch dem Städel Museum mit einer Sammlung alter Fotografien. Die wurde im Zuge der baulichen Erweiterung des Hauses wieder von Interesse – zu einem Zeitpunkt, als das Medium auf dem Kunstmarkt ein Comeback erlebte. 150 Jahre lang lagen diese Fotografien unberührt in ihren Archivboxen.

Giorgio Sommer, Entlausung, ca. 1870, Albuminpapier auf Karton, Städel Museum
Ein Direktor – seiner Zeit voraus
Die Bilder gehörten zur alten Lehrsammlung des Museums, die der ehemalige Städel Direktor Johann David Passavant um 1850 aufgebaut hatte. Passavant galt nicht nur moderner Kunst gegenüber als aufgeschlossen, sondern erkannte auch das Potenzial des damals ganz neuen Mediums. So kaufte er für die Studenten der Städelschule Fotografien, damit diese eine authentische Malvorlage hatten. Wie Bücher in einer Bibliothek standen ihnen die Bilder als Forschungsmaterial zur Verfügung. Und er ging noch einen Schritt weiter: Bereits 1845 stellte er Arbeiten des Frankfurter Fotografen Sigismund Gerothwohl aus – es war wahrscheinlich die erste Fotografieausstellung in einem Kunstmuseum weltweit.

Friedrich Carl Vogel, Porträt Johann David Passavant, 1846, Historisches Museum Frankfurt, Frankfurt am Main
Aber auch eine der wenigen Ausnahmen: Fotografie kam zumindest in Museen lange Zeit nur als Anschauungsmaterial zum Einsatz. Doch selbst diesen Nutzen verlor sie, als das Buchdruckwesen in der Lage war, Fotografien kostengünstig abzubilden. Damit wurden die Bilder entweder zu Archivgut deklariert oder ein Fall für die Mülltonne: Tatsächlich landeten auch bei vielen Institutionen Berge voll Abzüge auf der Deponie. Zum Glück nicht im Städel.
Die neue(n) Fotosammlung(en)
Zurück im 21. Jahrhundert. Auf die Wiederentdeckung der Lehrsammlung folgte eine gewaltige Erweiterung des Fotografiebestands, die seit einer Dekade fortgeführt wird. Das Städel beherbergt mittlerweile eine der bedeutendsten fotografischen Sammlungen in Deutschland.

Ernst Fuhrmann, Stachelbeere, Ribes grossularia, ca. 1930, Silbergelatine-Abzug, Erworben 2013 von Annette und Rudolf Kicken, gemeinsames Eigentum mit dem Städelschen Museumsverein e.V.
Den Anfang machte ein wertvolles Konvolut der DZ BANK Kunstsammlung mit Fotografien von 1960 bis in die Gegenwart. Der historische Anschluss zum 19. Jahrhundert glückte mit den Erwerbungen der Sammlungen von Uta und Wilfried Wiegand sowie von Annette und Rudolf Kicken 2011 und 2013. Damit deckt das Städel die gesamte Bandbreite der Fotografiegeschichte ab.
Die erste große Fotografie-Ausstellung
Mit der Ausstellung Lichtbilder. Fotografie im Städel Museum von den Anfängen bis 1960 präsentierte das Städel 2014 seinen reichen Fotobestand erstmals einer breiten Öffentlichkeit. Die Sammlung fand nun auch überregional Aufmerksamkeit – sogar bis nach Kalifornien, der Wahlheimat von Manfred Heiting. Kurzerhand schenkte der Sammler daraufhin dem Städel weitere bedeutende Arbeiten der Fotografiegeschichte, darunter von Horst P. Horst, François Kollar oder Leopold Ahrendts.

Man Ray, Schwarz und Weiß, 1926 (Abzug 1993 von Pierre Gassmann), Silbergelatine-Abzug, Städel Museum, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, © VG Bild-Kunst, Bonn
Mittlerweile ist die Sammlung auf über 4.600 Fotografien angewachsen und ist aus dem Haus nicht mehr wegzudenken. Erst letztes Jahr zeigte die großangelegte Ausstellung der Becher-Klasse, wie sich der Umgang mit dem Medium der Fotografie seit den Achtzigerjahren weiterhin radikal verändert hat. Und im kommenden Juli können sich Fotobegeisterte einen Gesamtüberblick über die reisedokumentarischen Arbeiten der in Düsseldorf lebenden Fotografin Ursula Schulz-Dornburg verschaffen.
Ins rechte Licht gerückt
Fotografien werden nicht nur bei Sonderausstellungen präsentiert, sondern haben mittlerweile auch einen festen Platz in den Sammlungsräumen der Abteilungen Kunst der Moderne und Gegenwartskunst. Aus restauratorischen Gründen sind die teils empfindlichen Fotografien in den jeweiligen Seitenkabinetten untergebracht, wo die Lichtstärke angepasst werden kann. Alle sechs Monate werden die Abzüge ausgetauscht – das sorgt nicht nur für frischen Wind in der Sammlungspräsentation, sondern garantiert auch eine lange Lebenszeit.

Albert Renger-Patzsch, Ohne Titel (Makroaufnahme eines Reißverschlusses), 1928-1933, Silbergelatine-Abzug, Erworben 2013 von Annette und Rudolf Kicken, gemeinsames Eigentum mit dem Städelschen Museumsverein, © VG Bild Kunst Bonn
Dem besonderen Status der Fotografie will der Städel Blog ab sofort mit regelmäßigen Beiträgen Rechnung tragen. Seid gespannt auf Interviews mit dem erwähnten Sammler Manfred Heiting oder mit einem mittlerweile hundertjährigen ehemaligen Fotomodell. Wenn ihr keinen dieser Beiträge verpassen wollt, meldet euch direkt zum Newsletter an!
Die Autorin Kristina Lemke wurde zum ersten Mal bei ihrem Praktikum 2011 von der alten Fotosammlung in den Bann gezogen. Heute kümmert sie sich als Wissenschaftlerin immer noch um die fotografischen Bestände und freut sich, in Zukunft mehr über die Sammlung zu berichten.
Kommentare (3)
Ein wegweisender Artikel zur Neuentdeckung der Fotografie in Museen, sehr interssant und fachkundig.
Das Foto von Ernst Fuhrmann sollten Sie um 90 Grad drehen, denn: Stachelbeeren hängen normalerweise nach unten. Oder hatte die Schwerkraft gerade Mittagspause?
Das Foto ist so schon richtig herum abgebildet, das nennt man dann künstlerische Freiheit ;) Viele Grüße!