Ausgewählte Fotografien der Sammlung Kicken hängen jetzt im Sammlungsbereich "Kunst der Moderne" und ergeben ein einzigartiges Zusammenspiel.

Ausgewählte Fotografien der Sammlung Kicken hängen jetzt im Sammlungsbereich „Kunst der Moderne“ und ergeben ein einzigartiges Zusammenspiel.

Im Jahr 2011 konnte mit der Sammlung Wiegand bereits die Frühzeit der Fotografie in die Dauerausstellung der „Kunst der Moderne“ im Städel Museum integriert und fortan gezeigt werden. Arbeiten der europäischen Avantgarde waren nur wenige vorhanden – diese Lücke konnte nun mithilfe der Schenkung und Neuerwerbung von bedeutenden Fotografien aus dem Bestand der Sammlung Kicken geschlossen werden. Vom Symbolismus und dem Surrealismus bis zur Neuen Sachlichkeit: Der Motivschatz der Werke ist reich und lässt einen spannenden Dialog zwischen den Kunstgattungen entstehen – und gibt den Blick auf neue Akzente frei.

Fantastische (T)Raumwelten

Eine schöne, gänzlich unbekleidete Frau hängt am Kreuz, qualvoll und erotisch zugleich. Die Rede ist von der „Kreuzigung“ (ca. 1913) des tschechischen Fotografen František Drtikol (1883– 1961). Die Vorstellung vom kruzifixierten weiblichen Körper entstand im Mittelalter und war stets umstritten. Zwischen spirituellem Ansatz und okkulter Faszination radikalisierte Drtikol das Motiv und wurde mit seiner Fotografie gar der Blasphemie bezichtigt. Dabei war die Kreuzigungsvision bereits im Fin de Siècle ein Trendthema. Mit der „Märtyrerin“ (ca. 1892) von Albrecht von Keller (1844–1920) findet sich im Kabinettraum eine weitere Schönheit am Kreuz – durch okkulte Symbolkraft und mystischer Ästhetik wurde seit jeher die Schaulust des Publikums gestillt.

Tod oder lebendig? Links: František Drtikol, (Ohne Titel) Kreuzigung, ca. 1913, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 22,7 x 17,3 cm, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main. Rechts: Albrecht von Keller, Die Märtyrerin, ca. 1892, Öl auf Pappe, 30,3 x 38 cm, erworben 1906 mit der Sammlung von Ludwig Josef Pfungst, Städel Museum, Frankfurt am Main

Tod oder lebendig?
Links: František Drtikol, (Ohne Titel) Kreuzigung, ca. 1913, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 22,7 x 17,3 cm, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main.
Rechts: Albrecht von Keller, Die Märtyrerin, ca. 1892, Öl auf Pappe, 30,3 x 38 cm, erworben 1906 mit der Sammlung von Ludwig Josef Pfungst, Städel Museum, Frankfurt am Main

Auch der „Kopf eines Mannes mit Helm“ (ca. 1929) von Rudolf Koppitz (1884–1936) zieht die Besucher in seinen Bann: Die Stirn ist in Falten gelegt, die Nasenflügel blähen sich auf und der Mund ist ernst verschlossen. Entschieden und kriegerisch blickt der Abgebildete nun in der Städelschen Sammlung der reitenden „Amazone“ (1897, Guss vor 1906) von Franz von Stuck (1863–1928) entgegen. Die Zusammenführung beider Werke ermöglicht eine ganz neue Betrachtungsweise.

Duell der Gattungen Links: Franz von Stuck, Reitende Amazone, 1897 (Guss vor 1906), Bronze, 64,5 x 46,6 x 17,3 cm, erworben 1906, Städel Museum, Frankfurt am Main Rechts: Rudolf Koppitz, Kopf eines Mannes mit Helm, ca. 1929, Silbergelatine-Abzug, 27,2 x 26 cm, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main

Duell der Gattungen
Links: Franz von Stuck, Reitende Amazone, 1897 (Guss vor 1906), Bronze, 64,5 x 46,6 x 17,3 cm, erworben 1906, Städel Museum, Frankfurt am Main
Rechts: Rudolf Koppitz, Kopf eines Mannes mit Helm, ca. 1929, Silbergelatine-Abzug, 27,2 x 26 cm, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main

Surrealismus trifft Horror

Solche und andere Überraschungen hält das Museum auch in der weiteren Sammlungspräsentation bereit. Im benachbarten Kabinettraum findet sich eine wahre Fotografie-Ikone. Man Rays (1890–1976) „Schwarz und Weiß“ (1926) zeigt Kiki de Montparnasse, die einstige Muse und Geliebte des Fotokünstlers, mit der linken Hand eine afrikanische Maske haltend – ein beliebtes Bildthema seit der Entdeckung afrikanischer Kunst durch die Kubisten. Doch der Fotograf ging noch weiter, er stilisierte Frau und Maske zu einer Einheit. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion verschwimmen. Eine Ausdrucksweise, die ihn mit seinem Surrealismus-Kollegen und Freund Max Ernst (1891–1976) verband. Wie unterschiedlich die Beiden das Sujet jedoch interpretierten, offenbart das neben der berühmten Fotografie platzierte Gemälde „Natur im Morgenlicht“ (1936) im Städel: Ernsts amorphe Gestalten stehen in keinerlei Verbindung zu dem makellosen Modell Man Rays.

Gleich und doch verschieden Links: Man Ray, Schwarz und Weiß, 1926, Silbergelatine-Abzug (Abzug von Pierre Gassmann 1993), 24,8 x 35,3 cm, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main Rechts: Max Ernst, Natur im Morgenlicht, 1936, Öl auf Leinwand, 25 x 35 cm, erworben 1977, Städel Museum, Frankfurt am Main

Gleich und doch verschieden
Links: Man Ray, Schwarz und Weiß, 1926, Silbergelatine-Abzug (Abzug von Pierre Gassmann 1993), 24,8 x 35,3 cm, erworben 2013 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main
Rechts: Max Ernst, Natur im Morgenlicht, 1936, Öl auf Leinwand, 25 x 35 cm, erworben 1977, Städel Museum, Frankfurt am Main

Weniger fantastisch, aber dafür umso hintergründiger erscheint das „Familienporträt“ (ca. 1915) von August Sander (1876–1964). Inmitten der schwarz gekleideten Gesellschaft steht ein Mädchen in weißem Kleid. Arme und Beine sind kaum zu erkennen, sie wirkt wie eine Geistererscheinung. Vermutlich handelte es sich hier um eine Erinnerungsaufnahme für eine Kommunion. Der Autodidakt Sander stellte unter dem Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts“ Personen verschiedener Gesellschaftsschichten dar, die er in charakterisierender Umgebung inszenierte. Dies machte ihn zu einem bedeutenden Vertreter der Neuen Sachlichkeit, doch die Wirkung ist hier eine andere: Von festlicher Stimmung ist auf dem Foto keine Spur. Die ernsten Mienen der Anwesenden verwandeln es in ein Szenario, das aus einem Horrorfilm stammen könnte. So findet das Familienporträt in den Bildwelten des Surrealismus seinen angemessenen Platz.

Mit Gänsehautcharakter August Sander, Ohne Titel (Familienporträt), ca. 1915, Silbergelatine-Abzug, 24,2 x 30,7 cm, erworben 2013 von Annette und Rudolf Kicken, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins und des Städel Museums; Städel Museum, Frankfurt am Main

Mit Gänsehautcharakter
August Sander, Ohne Titel (Familienporträt), ca. 1915, Silbergelatine-Abzug, 24,2 x 30,7 cm, erworben 2013 von Annette und Rudolf Kicken, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins und des Städel Museums; Städel Museum, Frankfurt am Main

Streng in Form

Was hat die „Brücke“ (ca. 1927) des Architektur-Fotografen Werner Mantz (1901–1983) mit dem „Selbstbildnis mit verschränkten Armen“ (1926) von Ottilie W. Roederstein (1859–1937) gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel, doch aus beiden Werken spricht die Formsprache der Neuen Sachlichkeit. Mit extremem Purismus dokumentierte der Kölner Fotograf die Ära des Neuen Bauens und auch die Deutsch-Schweizerin Roederstein wählte in ihrem grautonigen Selbstporträt eine nüchterne Darstellungsweise. „Kunst zwischen den Kriegen“, welches das Motto des Kabinettraums ist, bedeutet eine Rückbesinnung auf die Klarheit künstlerischer Gestaltung.

Nüchterne Ästhetik Links: Werner Mantz, Köln: Brücke, ca. 1927, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 16,7 x 22,5 cm, erworben 2013 von Annette und Rudolf Kicken, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins und des Städel Museums; Städel Museum, Frankfurt am Main Rechts: Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit verschränkten Armen, 1926, Öl auf Leinwand, 55,1 x 46 cm, erworben 1929 mit Mitteln der Frankfurter Künstlerhilfe, Städel Museum, Frankfurt am Main

Nüchterne Ästhetik
Links: Werner Mantz, Köln: Brücke, ca. 1927, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 16,7 x 22,5 cm, erworben 2013 von Annette und Rudolf Kicken, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins und des Städel Museums; Städel Museum, Frankfurt am Main
Rechts: Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit verschränkten Armen, 1926, Öl auf Leinwand, 55,1 x 46 cm, erworben 1929 mit Mitteln der Frankfurter Künstlerhilfe, Städel Museum, Frankfurt am Main

Dabei war die Kunstströmung stilistisch und thematisch oft ganz unterschiedlich. Ein lückenloses Bild der damaligen Industriebegeisterung ergibt die Rasterhängung „Maschinendetail“ (ca. 1950) von Albert Renger-Patzsch (1897–1966). Mit kühnem Ausschnitt führt der Fotograf das Motiv nah an den Betrachter heran. Im Kontrast dazu steht die eigenwillige Industrielandschaft „Ländliche Idylle“ (1935) Volker Böhringers (1912–1961), der in seinen Bildern die von Kriegswirren erschütterte Welt als verstörende Erfahrung wiedergibt.

Faszination Technik Links: Albert Renger-Patzsch, Maschinendetail, ca. 1950, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 16,7 x 22,6 cm, erworben 2012 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main Rechts: Volker Böhringer: Ländliche Idylle, 1935, Tempera auf Öl auf Pappe, 43,4 x 54,2 cm, erworben 2009, Eigentum des Städelschen Museumsvereins e.V.

Faszination Technik
Links: Albert Renger-Patzsch, Maschinendetail, ca. 1950, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 16,7 x 22,6 cm, erworben 2012 als Schenkung von Annette und Rudolf Kicken, Städel Museum, Frankfurt am Main
Rechts: Volker Böhringer: Ländliche Idylle, 1935, Tempera auf Öl auf Pappe, 43,4 x 54,2 cm, erworben 2009, Eigentum des Städelschen Museumsvereins e.V.

Innerhalb der Kunstgattungen lassen sich ganz eigene Möglichkeiten künstlerischer Aneignung von Wirklichkeit finden. Die gemeinsame Präsentation von Fotografie, Malerei und Skulptur in der Schausammlung eines deutschen Kunstmuseums ist immer noch besonders. Eine gleichberechtigte Wahrnehmung der verschiedenen Medien, ihre Parallelen und Gegensätze festzustellen und zu erklären ist unser Anliegen. Wie dies aussehen mag, das könnt Ihr ab sofort im Städel Museum erleben.