Zur Dokumentation temporärer Kunstwerke
Gefilmt, fotografiert, wiederaufgeführt
In den letzten Wochen waren viele Städel-Besucher eine „One Minute Sculpture“ von Erwin Wurm und haben ein Foto von ihrer Minute als Kunstwerk mit nach Hause genommen. Ist diese Fotografie dann auch Kunst oder „nur“ Dokument? Können Fotografien und Filmaufnahmen temporäre Kunstwerke überhaupt adäquat wiedergeben? Und was wüssten wir über die Geschichte der Performancekunst ohne ihre mediale Vermittlung?
Anna Fricke | 26.06.2014

Dokumentation ist nicht gleich Dokumentation: dieses Foto einer One Minute Sculpture im Städel Museum wird gerade von Erwin Wurm persönlich aufgenommen. Die Situation wird fotografiert von Katrin Binner.
„Das offene Kunstwerk“
Mittlerweile sind sicherlich einige hundert Fotografien von Städel-Besuchern entstanden, die den Handlungsanweisungen von Erwin Wurm gefolgt sind. Wenn jede dieser Abbildung ein Kunstwerk wäre, müssten sie sich doch auch für einen guten Preis weiterverkaufen lassen? Und wenn es kein Kunstwerk ist, dann müsste sich doch seine Grenze zur Nicht-Kunst bestimmen lassen? Die letztere Frage hat sich der italienische Schriftsteller, Philosoph und Kulturtheoretiker Umberto Eco (*1932) vor über 50 Jahren in seiner wichtigen Schrift „Das offene Kunstwerk“ gestellt. „Offene Kunstwerke“ bieten nach Eco mehr als nur verschiedene Möglichkeiten der Interpretation: der Betrachter, Leser oder Hörer „beteiligt“ sich am „Machen des Werkes“. Offene Kunstwerke sind keineswegs beliebig interpretierbar und ergänzbar, ihre Offenheit ist eine vom Künstler gelenkte. Erwin Wurms „One Minute Sculptures“ sind geradezu idealtypische Beispiele für „offenen Kunstwerke in Bewegung“, für die Eco sich besonders interessiert. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie überhaupt erst vom Besucher/Betrachter vollendet werden, nicht nur geistig, sondern durch körperliche Partizipation.
Diese Vorüberlegung erleichtern die Antworten auf die ersten beiden Fragen: Die Handlungsanweisung gehört ebenso zum Kunstwerk wie die Ausführung und deren Dokumentation, sofern sie vom Künstler gelenkt ist. Dem Verkauf des eigenen Handyfotos auf der nächsten Auktion steht aber dennoch einiges im Wege. Zunächst müsste dieses zumindest vom Künstler autorisiert werden. Und dennoch gehört es zum Kunstwerk, denn dieses zergliedert sich dank seiner offenen Struktur, die ein häufiges Kennzeichen insbesondere der Kunst seit den späten 1950er Jahren ist, in verschiedene Teile mit unterschiedlichen Funktionen: Konzept, Ausführung, Rezeption und Dokumentation.
Wurminspirierter Foto-Beitrag auf dem Social-Media-Kanal Twitter:
6yr old wanted to become #oneminutesculpture – inspired by logo/kika #erwinwurm pic.twitter.com/sDg2nBnhtd
— Thomas Jöchler (@tjoechler) 17. Mai 2014
Interpretation durch Dokumentation
Mit Blick auf die Geschichte temporärer Kunstwerke kommt der Dokumentation durch Fotografie und Film aber auch dann, wenn sie nicht vom Künstler intendiert ist, eine große Bedeutung zu. Legendäre Performances beispielsweise von Joseph Beuys (1921–1986), Chris Burden (*1946) oder Carolee Schneemann (*1939) bezeugten teilweise nur eine Hand voll Zuschauer, erst ihre Dokumentation ermöglicht somit eine Vorstellung davon, was jenseits von Erzählungen passiert ist – auch noch viele Jahre nach der Realisierung des Kunstwerks. Aber Dokumentation ist nicht gleich Dokumentation und auch sie folgt einem subjektiven Blick. Vielmehr erfahren wir durch den Blick der Fotografen und Filmemacher von dem Ereignis, indem wir ihren Blickwinkel nachvollziehen. Die künstlerische Arbeit wird also wiederum – mit mehr oder weniger künstlerischem Anspruch – editiert. Fotografien und Videoaufnahmen sind wie Linsen, durch die wir die Performance fortan sehen. In gewisser Weise haben Performance und Fotografie/Video ein parasitäres Verhältnis, die Kunstform besetzt andere Medien, weil ihr diese eine Möglichkeit bieten fortzubestehen. Deswegen lässt sich das vom Künstler autorisierte Video einer Performance auch durchaus verkaufen. Foto einer One Minute Sculpture auf Twitter aus dem Städel:
….und auch die Nähe hält er aus, der Besucher im Kunstmuseum, der selbst zur Kunst wird #StaedelMuseum #erwinwurm pic.twitter.com/Yq6tW0hm1W
— SHllmann (@SHllmann) 9. Juni 2014
Fotografie und Film als Skulptur
Zurück zu Erwin Wurm: Der britische Kunstwissenschaftler Michael Newman behauptet, dass in Erwin Wurms Werk die Fotografien und Videos sogar selbst als Skulpturen zu verstehen sind. Das gilt besonders auch für die „One Minute Sculptures“. Newman meint damit allerdings diejenigen Fotografien und Videos, die Wurm selber sorgfältig komponiert und arrangiert hat. Was früher das Podest der Skulptur war, sei nun durch das inszenierte Foto oder Video ersetzt, für welches Wurm einen menschlichen Körper ‚modelliert’ hat. Dabei vergisst Newman nicht zu betonen, dass die Art der medialen Dokumentation das Kunstwerk wesentlich transformiert und bestimmt: Während die Fotografie einen Moment abbildet und die Auswahl eines Treffers aus einer ganzen Reihe verwackelter Bilder ermöglicht, vollzieht die Filmaufnahme den gesamten Prozess nach: sie zeigt die Unsicherheiten, das Zittern der Muskeln und die Widerspenstigkeit der involvierten Gegenstände. Denn eine Minute kann lang werden, wenn man beispielsweise versucht eine WC-Ente seitlich auf dem Kopf zu balancieren.
Die Autorin Anna Fricke, die sich derzeit auf die Verteidigung ihrer Dissertation vorbereitet, erlebt Performances am liebsten direkt und dennoch träumt sie von einem Videoarchiv aller jemals aufgeführten Performances.
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