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Süddeutsch (?): Hl. Sebastian, um 1520/30, Laubholz, Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main

Doch – sie konnten es besser, sie wollten es nur nicht. Spätestens durch Albrecht Dürers Veröffentlichung der „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ (1528) waren alle Grundlagen gelegt, um die Verhältnisgrößen des menschlichen Körpers in der Kunst korrekt wiedergeben zu können. Vereinfacht könnte man sagen: Albrecht Dürer hat seinen Kollegen in puncto perspektivischer wie proportionaler Richtigkeit die Show gestohlen. Weil dem „teutschen Apelles“ kaum mehr der Rang abzulaufen war, ließen sich seine Zeitgenossen Dinge einfallen, die man zuvor noch nicht gesehen hatte. In unserer Ausstellung „Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500“ begegnet man außerordentlich innovativen Ausdrucksformen, die sich durch expressive Verzerrungen, ungewöhnliche Lichteffekte oder eine auffällige Farbgestaltung auszeichnen.

Dramatisierung und Verzerrung

Zwar blieben Künstler wie Albrecht Altdorfer (um 1480–1538), Wolf Huber (um 1485–1553) oder Hans Leinberger (dokumentiert in Landshut, 1510–1530) weiterhin biblischen Themen verpflichtet, doch brachen sie ungeniert mit den Darstellungskonventionen ihrer Vorgänger und stellten so die Sehgewohnheiten ihrer Zeitgenossen auf den Kopf. An die Stelle meist andachtsvoller Stille traten bei ihnen geradezu „laute“ und aufwühlende Bildelemente. Mit unterschiedlichen Mitteln wurde jetzt die eigentliche Dramatik des Geschehens veranschaulicht. Die in unserer Ausstellung präsentierte „Gefangennahme Christi“ Wolf Hubers (nach 1522) etwa ist voll von grotesken Köpfen, die sich mit verschwörerischen Blicken, heftigen Gesten und weit aufgerissenen Mündern um das Geschehen im Zentrum gruppieren. Die farblich reich ausdifferenzierten Figuren sind verkürzt, verzerrt und überlagern sich, wodurch sich die Menschenmenge in dynamischer Bewegung zu befinden scheint.
Besonders eindrücklich zeigt sich das expressive Mittel der Verzerrung an der rundansichtigen Skulptur eines unbekannten Meisters: der Figur des heiligen Sebastian (um 1520/30), die ebenfalls im Städel Museum zu sehen ist. Der für sein Bekenntnis zum Christentum bestrafte und mit Pfeilen durchbohrte ehemalige Leibgardist des römischen Kaisers Diokletian ist nur mit einem Lendentuch bekleidet und an einen Baumstumpf gefesselt. Auf den ersten Blick entspricht die Darstellung dem traditionellen Typus des Märtyrers. Schnell aber fällt auf, dass es der Künstler mit der anatomischen Wirklichkeit nicht sehr genau genommen hat. Das rechte Bein ist stark überlängt und missgestaltet, die Augen stehen völlig schief im Gesicht und die Haut des linken Arms ist mit Dellen und Beulen gänzlich unnatürlich modelliert. Die gezielte Entstellung und das betonte Desinteresse an anatomischen Proportionen zeugen jedoch nicht von handwerklicher Unfähigkeit, wie man zunächst vermuten könnte, sondern vielmehr von einer Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten.

Ausstellungsansicht: Meister des Zwettler Hochaltarretabels und Werkstatt: Apostelzone des Mittelschreins des ehemaligen Hochaltarretabels der Zisterzienserkirche Zwettl, 1516-25, Lindenholz

horror vacui – Abscheu vor der Leere

Die bewusst zur Schau getragene Abkehr von etablierten Idealvorstellungen war zugleich auch eine Demonstration der Künstler, dass sie mit den gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten sehr wohl souverän umzugehen wussten. Wie zum Beweis der eigenen Kunstfertigkeit machte sich jetzt vielfach die Tendenz bemerkbar, jeden Zentimeter des Bildraums zu nutzen. Manche Künstler entwickelten eine regelrechte Abscheu vor der Leere, auch „horror vacui“ genannt: Jeder Winkel wird kunstvoll durchgestaltet, alles greift ineinander und fügt sich zu einer großen, bewegten Masse. Häufig heben sich die Figuren kaum mehr vom Hintergrund ab und werden dabei selbst ornamentalisiert. Ein Beispiel extremer Verdichtung ist die Apostelzone des Zwettler Hochaltarretabels (1516-25), die sicherlich zu den auffälligsten Werken unserer Ausstellung gehört. Ein fast undurchdringbares Chaos bietet sich dem Betrachter dar, der vor die Aufgabe gestellt ist, die vor ihm befindliche Menschengruppe mühsam zu entschlüsseln. Welche Hand gehört wem? Wohin gehört dieser Fuß? Die Körper der Apostel sind expressiv verdreht, ihre äderigen Hände gekrümmt, ihre Blicke – mal durchdringend, mal furchtsam, mal suchend – gehen sämtlich in unterschiedliche Richtungen und fordern den Betrachter auf, es ihnen gleichzutun. An einem bestimmten Bildelement innezuhalten ist bei dieser Fülle von Motiven schier unmöglich.

Albrecht Altdorfer: Geburt Christi, um 1511, Lindenholz, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie

Expressive Lichterscheinungen

Ein expliziter Bildmittelpunkt fehlt auch in dem im Städel Museum gezeigten Gemälde der „Geburt Christi“ (1511) von Albrecht Altdorfer. Architektur und Landschaft sind ausgesprochen raumgreifend, so dass das eigentliche Bildthema der Geburt fast versteckt ist. Die aufgeladene Stimmung aber lässt erahnen, dass etwas höchst Bedeutungsvolles im Gange ist. Erzeugt wird sie durch eine ungewöhnliche Lichtregie, die Altdorfer in mehreren Werken nutzt: Die wie beiläufig in die dominante Ruinenarchitektur verlegte Geburtsszene wird allein durch den göttlichen Glanz des Christuskindes erhellt. In einer strahlenden Gloriole am oberen Bildrand wacht Gottvater über das nächtliche Geschehen, darunter ist in einer Lichtwolke der Verkündigungsengel zu erkennen. Ungeklärt ist die Quelle des von links hereinfallenden Lichts, das die drei schwebenden Engel und das Mauerwerk ausleuchtet.
Als Mittel zur Ausdruckssteigerung sind Lichterscheinungen auch bei anderen Künstlern beliebt und werden in unterschiedlichsten Konstellationen erprobt: göttliches Licht wechselt mit tiefroten Sonnenuntergängen oder schimmerndem Mondschein. Zuletzt scheinen dem expressiven Erfindungsgeist dieser Zeit auch mit der Darstellung von Blitzen und Meteoren kaum Grenzen gesetzt.