Ein bockiger Ritter und sein mutloses Pferd werden vom Rosa der süßen Erika umgarnt. Derselbe Farbton, versetzt mit hellem Blau und Gelb, findet sich ebenso in den Flügeln der dicklichen Kinder wieder, die auf luftigen Wolken toben. Die haarsträubenden Verzeichnungen der Umrisslinien werden von den knorrig verklebten Farbschichten nicht mal kaschiert. Geköpfte Wundervögel, manierierte Gesten manischer Götter und unelegante Meerwesen: Ist Thoma gleich Trash?

Hans Thoma (1839-1924): Engelwolke, 1884; Öl auf Karton; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Hans Thoma (1839-1924): Engelwolke, 1884; Öl auf Karton; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Was veranlasste den Schöpfer feinmalerischer Werke wie „Der heilige Christopherus“ oder des „Bildnis Prinz Friedrich Karl von Hessen“ dazu, so einfache, teils fehlerhafte Darstellungen nicht nur herzustellen, sondern auch noch zu verkaufen? Kann die dick aufgetragene Naivität, die kitschig anmutende Lieblichkeit Absicht sein? Kann Thoma sie bewusst als Stilmittel eingesetzt haben? Und ob.

Hans Thoma (1839-1924); Bildnis Prinz Friedrich Karl von Hessen, 1892; Öl auf Holz; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Hans Thoma (1839-1924); Bildnis Prinz Friedrich Karl von Hessen, 1892; Öl auf Holz; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Das Ringen um Ausdruck

Thomas zeitgenössischen Verehrer fanden eine vortreffliche Erklärung für die Skurrilität seiner Bildwelt, die sich sanft in den Zeitgeist einfügte: „[U]nschöne oder sagen wir besser absonderliche“ Gestalten seien, im Vergleich zu den altdeutschen Meistern, „Eigentümlichkeiten der auf Charakteristik, Ausdruck oder Humor ausgehenden Wesensseite der deutschen Kunst überhaupt“, so Henry Thode, Städel-Direktor von 1889 bis 1891, in “Thoma, des Meisters Gemälde“ (1909, S. LIV). Auch seine Landschaftsbilder mit den vielleicht nicht ganz richtig gezeichneten menschlichen Gestalten entsprächen dem deutschen Volkscharakter. Im Gegensatz zum Impressionismus, der im L’art pour L’art allein der technischen Virtuosität fröne, sei Thomas echtes Ringen um Ausdruck typisch für ein vermeintlich spezifisches Deutschtum.

Wunder soll man nicht deuten!

Die wahrhaftig empfundene Schönheit der heimatlichen Natur, die sich in Thomas Bildern spiegle und träumerisch angereichert werde, könne der Betrachter laut Thode nicht rational erschließen, sondern nur mit Hilfe der gleichsam in ihm angelegten Volksseele nachfühlen. So führe der Versuch eines intellektuellen Zugangs zu den Bildwesen Thomas nicht weiter: „Was bedeutet das? Ich weiß es nicht, und Thoma weiß es vielleicht auch nicht. Es ist eben ein Meerwunder; und Wunder soll man nicht deuten wollen!“, erläutert Cornelius Gurlitt einleuchtend. So wurden die Fähigkeit zum fantasievollen Überhöhen, die tief empfundene Naturverbundenheit und sogar die Ungeschicklichkeit der zeichnerischen Wiedergabe zu den herausragenden Eigenschaften der Nationalität des Künstlers ernannt.

Hans Thoma (1839-1924); Meerwunder, 1880; Öl auf Pappe; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Hans Thoma (1839-1924); Meerwunder, 1880; Öl auf Pappe; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Rumpelkammer und Wunderspiegel

Heimatlich, rührselig, naiv – die positive Interpretation dieser Charakteristika brachte Hans Thomas Kritiker auf die Palme! „[R]ührte er nicht an dieses Gefühl aus der Rumpelkammer des lieben Deutschtums, würde man kaum auf ihn achten“, versuchte der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe im Jahr 1904 das unhinterfragte Bild vom „Jungen aus dem Schwarzwald“ zu brechen. Unbeirrt dessen zeichnete Thoma dieses Bild in seiner anekdotenreichen Autobiographie „Im Herbste des Lebens“ von 1909 weiter: Wenn er die Wiesen seiner Heimat als Kind erkundet habe, war sein sehnlichster Wunsch ein Wunderspiegel, mit dessen Hilfe er die Schönheit der Natur um ihn herum direkt festhalten könne. Autodidaktisch habe er sich anhand der Figuren auf Spielkarten und Malereien auf Bauernmöbeln das Zeichnen beigebracht, um endlich die von ihm empfundene Wesenhaftigkeit seiner Umgebung wiedergeben zu können.

Hans Thoma (1839-1924); Erika und sitzender Ritter, 1894; Pinsel in Schwarz über Bleistift, Aquarell und Spuren von Pudergold auf Velin; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Hans Thoma (1839-1924); Erika und sitzender Ritter, 1894; Pinsel in Schwarz über Bleistift, Aquarell und Spuren von Pudergold auf Velin; Städel Museum, Frankfurt am Main.

Die reine Absicht des Genies

Die Reinheit, die in dieser vermeintlich kindlichen Erfahrung liegt, spiegelt sich in der offensiven Naivität der Bildgestaltung wieder: unkritisch, direkt, ohne doppelten Boden, entspricht sie dem wagnerschen Ideal des „Reinmenschlichen“. Das Rosa der Erika, das den Ritter umgarnt, ist keusch, in ihm wohnt keine sinnliche Verführungskunst. Auch die vielerorts erscheinenden Putten sind reinen Wesens, von elfischen, düsteren Zügen ungetrübt. Kinder, Helden, Künstler und Genies, so die zeitgenössische Interpretation, hätten die Fähigkeit, das wahrhafte Wesen der Welt zu erkennen. Hier reiht sich Hans Thoma ein, wenn er sich zum naiv-kindlichen Bauernsohn stilisiert. Was als unkünstlerische Geste daherkommt ist die künstlerische Geste schlechthin.
Die Anhänger des Meisters, die Thomaner, nehmen die bewusst vorgetragene Naivität dankend an. Durch die Wertung als Charakteristikum der deutschen Volksseele wird sie zum Gegenmodell der künstlerisch-technischen Virtuosität. Thoma kann also anders – es wäre aber nicht halb so spannend.