Jérôme Sans
Der Nullpunkt der Skulptur
Der in Paris und Peking lebende Jérôme Sans arbeitet als Kritiker und Kurator, gründete 2002 das Palais de Tokyo in Paris gemeinsam mit Nicolas Bourriaud und war unter anderem Direktor des Ullens Center for Contemporary Art (UCCA) in Peking. 1994 veröffentlichte er einen Aufsatz über die Arbeiten von Erwin Wurm. Diesen Text findet Ihr auf dem Wurm Blog nun in gekürzter Fassung.
Jérôme Sans | 03.07.2014

Erwin Wurm (*1954); 59 Stellungen, 1992; Video, 20:00 Min.; © Studio Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Jérôme Sans
Der Nullpunkt der Skulptur
„In den Straßen … auf dem Flohmarkt, in den ungewöhnlichsten Zusammenhängen und Zufällen des Alltags sind die verwirrendsten Zeichen zu suchen. Kunst ist hier und heute“ (Gilles Lipovetsky)
Die Nichtigkeiten des Alltags
Erwin Wurm zählt zu jenen zeitgenössischen Künstlern, die die unbedeutenden Kleinigkeiten des Alltags in ihrer künstlerischen Arbeit thematisieren. Dabei nähert er sich der künstlerischen Fragestellung in sehr einfacher Weise, reduziert die Aktivität des Künstlers auf ein Minimum, auf ein Nichts. Seit einigen Jahren bringt Erwin Wurm in seinen Skulpturen die einfachen und alltäglichen, die natürlichen und automatischen, die winzigen Gesten des sozialen Lebens – essen, sich ankleiden, Kleider wegräumen oder einen Raum aufräumen – zum Ausdruck: Kleider entfalten, sie überziehen, sie sorgfältig falten, um sie auf kleinstem Raum zu verstauen; Gegenstände für einen Augenblick aus ihrer gewohnten Umgebung zu entfernen, um den Staub, der unablässig alles bedeckt und den Raum mit einer dünnen und regelmäßigen Schicht umgibt, wegzuwischen. So entstehen Skulpturen aus dem Nichts, nur aus dem was gerade zur Hand ist, mit geringstem Aufwand. Der Nullpunkt der Skulptur. Sich der Kunst durch eine Reihe einfacher Fragen, die manchmal zu kleinen „Rätseln“ werden, annähern: wie kann man mit nur zwei Nägeln und ohne Tricks oder Nadel und Faden zur Hand zu nehmen, einen Pullover, dieses weiche Material, zu einem einheitlichen Block formen? Wie verteilt man eine Schicht Staub gleichmäßig?
Bedeckungen
Das Prinzip des Bedeckens. Die Werke von Erwin Wurm verweisen beharrlich immer wieder auf die Oberfläche, das Volumen, die alles umgebende Haut, die jede Skulptur auszeichnenden Merkmale. Ist der Staub, der unausweichlich in einem nie enden wollenden Prozeß alles bedeckt, nicht wie eine zweite Haut des uns umgebenden Raums, der unaufhaltsam alle Gegenstände mit einem dünnen Film umhüllt? Vergleichbar etwa mit der Kleidung, die quasi als zweite Haut den menschlichen Körper umgibt? So als könne jeder Raum, jeder Gegenstand, jeder Körper nur unter diesen verschiedenen Schichten existieren, unfähig sich in seiner Nacktheit zu zeigen. Bedeckungen. Hinter seiner Schminke, seiner Maske verweist der bedeckte, der verdeckte Körper auf die soziale Bedeutung der Kleidung. Auf das Theater des Alltäglichen. Auf die persona. Ein Theaterstück, bei dem Schauspieler und Zuschauer zu ein und derselben Person verschmelzen. Das Merkmal der Sozialität ist, so Michel Maffesolli, gerade eben, daß „die Person (persona) sowohl im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als auch innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, an der sie teilhat, verschiedene Rollen spielt; ihre Kostüme wechselt und je nach ihren (sexuellen, kulturellen, religiösen, freundschaftlichen) Vorlieben jeden Tag eine andere Rolle in den verschiedenen Szenen des Theatrum mundi übernimmt“. Sie wird somit zur Stütze einer künstlichen Illusion, zum Akt der Differenzierung, der sozialen und Identität spendenden Bedeutung. Das Werk Erwin Wurms läßt sich mit einem seiner Videofilme vergleichen – bis ins Extrem verformte Kleidungsstücke werden in 59 verschiedenen Formen gezeigt – es läßt ebensoviele absurde Formen entstehen, ebensoviele verschiedene Positionen, Bilder, so als wolle der Künstler alle Perspektiven ein und derselben Person bis hin zu den uneingestandenen (Sexualität, Klaustrophobie, Ängste, Momente des Wahns, Infantilismus, Scham … ) ungeschminkt darstellen. Einerseits verweist der versteckte, der bedeckte Körper auf die zweite Haut, auf die soziale Rolle der Kleidung, andererseits auf den Wunsch nach Schutz und Geborgenheit. Sie ist ein geschlossenes Ganzes, ein Unterschlupf, das Spiegelbild des Inneren, des Unbewußten. Ein Refugium – man denke nur an das Symbol der Frau als schützendes Wesen, an den Mutterleib. Ein „living room“. In seine Kleider steigen, sich hineinkuscheln ist entweder Ausdruck einer stationären oder stagnierenden Phase der psychischen Entwicklung oder eine evolutive Phase, die sowohl progressiv als auch regressiv sein kann.

Erwin Wurm; Psycho mobil, 2014; Städel Museum, Frankfurt am Main; © Studio Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Durch die Verwendung von Kleidungsstücken erinnert Erwin Wurm auch daran, daß der Akt des Sich-Ankleidens weniger Ausdruck einer physiologischen Notwendigkeit als vielmehr Ausdruck des menschlichen Wunsches ist, seinen Körper zu beherrschen und neu zu erfinden.
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Die Ästhetik der Abwesenheit
Im Gegensatz zur nur spektakuläre Ereignisse produzierenden Maschinerie der Medienwelt sprechen die Werke von Erwin Wurm von Abwesenheit. Von der Abwesenheit, die das Wesen des Kunstwerkes begründet, die symptomatische Abwesenheit, die der Geschichte der Moderne insgesamt zum Aufbau verhalf. Durch die Verwendung von Kleidungsstücken erinnert der Künstler folglich an die Abwesenheit des Körpers und bei seinen Staub-Objekten ist es die Abwesenheit des Objekts, die den Betrachter mit den Spuren des Objekts, der Erinnerung an seine Form, seine Konturen zurückläßt und ihn mit diesen konfrontiert. Es sind Werke an der Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, die nur durch besondere Aufmerksamkeit erkannt werden. Werke, die nur durch Nägel festgehalten werden, Zauberkunststücken gleich, die nach der Abnahme ipso facto in ihre ursprüngliche Identität zurückfallen. Angesichts der postmodernen Konsumgesellschaft, die immer mehr Objekte, Bilder, Dienstleistungen konsumiert, in einer Ära unersättlicher Gier, stellt Erwin Wurm die eindeutige Frage nach der Notwendigkeit, nach dem Verschwinden als Unausweichlichkeit unserer menschlichen Bedingung. Der Künstler greift dabei in gewisser Weise auf einen Satz von Douglas Huebler zurück, der einen ganzen Abschnitt der Zeitgeschichte auf dem Begriff der Abwesenheit aufbaute: „Wozu in dieser übersättigten Welt noch ein Objekt hinzufügen?“ oder er wiederholt die Leibniz’sche Frage „Warum ist nicht nichts?“. Verdiente es das Objekt nicht, dorthin zurückzukehren, wo es herkam, das heißt in den Zustand des Staubs? Ist der Staub nicht gleichzeitig die allerhöchste Materie, aus dem der Mensch, wie es in der Genesis heißt, geformt wurde und zu der er wieder zurückkehren wird? Ein unausweichlicher Zyklus aller Körper, aller Objekte. Erwin Wurm scheint zu unterstreichen, daß die Welt nur mehr durch ihren eigenen Staub dargestellt werden kann, auch wenn sie trotz allem andere Bilder fordert und entstehen läßt. Während die Überproduktion der Medienwelt ebenso wie die Informationen und Nachrichten, die entstehen und ebenso schnell wieder verschwinden, zur Auflösung führt. Die Ära der Dringlichkeit. Die Ära des Verschwindens.
Einerseits verweisen die Kleidungsstücke darauf, daß wir uns der Nacktheit bewußt sind, andererseits nehmen die Spuren der Gegenstände, die im Staub zurückbleiben, die Form des Gegenstandes an, halten sie wie auf einer Photoplatte fest und nehmen so an dieser Abwesenheit teil. Eine Abwesenheit von Hinweisen über das was bedeckt wurde oder über die Identität der Objekte, die sich vorher an dieser Stelle befanden. Welchen Körper bedeckten diese Kleidungsstücke, woher kamen sie, nichts gibt Aufschluß über die Objekte, die von ihren Sockeln oder aus den Vitrinen, die noch voll der Präsenz der Objekte sind, verschwunden sind. Das wichtigste Stück, das corpus delicti, fehlt in der Akte.
Wir leben in einer Zeit, in der das Verbergen des Körpers hinter Kleidungsstücken ebenso bedeutsam, wenn nicht bedeutungsvoller ist, als die bloße Darstellung seiner Nacktheit. Das Verborgene, Versteckte, erzeugt ebensoviele Phantasiebilder.
Maurice Blanchot sagt diesbezüglich: „Je weniger sich ein Kunstwerk manifestiert, umso kraftvoller ist es: so als verlange ein geheimnisvolles Gesetz, daß es für immer verborgen bleibe, nur das zeige, was verborgen bleiben muß und sich letztlich nur durch das Verbergen zeigt“. Das Rätsel des Kunstwerks.
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Erwin Wurm; Ohne Titel, 1989; Hose, verzinktes Blech; Städel Museum, Frankfurt am Main; erworben 2013 aus Mitteln des Städelkomitees 21. Jahrhundert, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.; © Studio Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Minimalistische Performance
Die zunächst minimalistisch erscheinenden Arbeiten Erwin Wurms stehen in enger Verbindung zu Aktion und Performance und knüpfen somit einerseits an die, eine ganze Generation prägende Tradition des Wiener Aktionismus an, wurden andererseits jedoch auch maßgeblich von Joseph Beuys beeinflußt. Performance-Werke oder Spuren von aktionistischen Handlungen, die sich in der präsentierten Form auflösen. Skulpturen, deren Formen gleichzeitig Lockmittel und einfacher formeller Anspruch sind. Ein Kleidungsstück zu einer Form falten und durch zwei Nägel zu befestigen, Staub aus einem Staubsaugersack über einem Objekt zu verstreuen und dieses dann zu entfernen, ein Buch zu schreiben, das Rezepte enthält, wie man durch eine spezielle Diät innerhalb einer Woche vier Kleidergrößen zunehmen kann, 59 verschiedene Stellungen, 59 absurde Formen mit jeweils verschiedenen Kleidungsstücken zu schaffen (Pullover, Hosen, Westen, Hemden), ein Projekt mit dem Ziel, für die Dauer von 20 Sekunden eine ephemere Skulptur entstehen zu lassen, die bereits im nächsten Augenblick durch die nachfolgende abgelöst wird. Lebende Skulpturen, die in gewisser Weise an Gilbert & George erinnern, wenngleich die dadurch erzeugte Ironie und Absurdität eher an die Filme von Jacques Tati denken läßt.
Wenn Erwin Wurm im Rahmen einer Ausstellung in einem Wiener Museum jemanden bittet, 10 Tage lang je 8 Stunden Flipper zu spielen, dann unterstreicht er mit dieser lebenden Skulptur die Dimension der körperlichen Leistung, der Müdigkeit, des Schmerzes. Eine Aktion, die durch ihre Dauer automatische, repetitive, schrittweise hypnotisch werdende Gesten erzeugt. Gesten, die sich aus sich selbst heraus bewegen. Vergleichbar mit dem Automatismus der wichtigsten menschlichen Tätigkeiten: sich ernähren, sich anziehen, aufräumen …
Automatisch
Dieser Automatismus bildet das Kernstück von Erwin Wurms künstlerischer Strategie, die nicht durchdachte, aber unausweichliche und schnelle Gesten aufzeigt. Erworbene Gesten, die im allgemeinen nicht hinterfragt werden. Der Künstler verweist hierbei auf die mehr oder weniger bewußten psychischen Phänomene, die dem Automatismus zugrundeliegen. Aber jenseits des reinen psychischen Automatismus, mit dessen Hilfe André Breton in den 20er Jahren den Surrealismus definierte, der die Aktivität des unkontrollierten Unbewußten klar, ohne die Zensur des selektiven Bewußtseins aufzeigen möchte, versucht Erwin Wurm auch darzulegen, daß der Automatismus der eigentliche Charakter eines von Menschenhand erzeugten Mechanismus ist. Der Künstler verwendet den Automatismus, der bis dahin als Vektor für jeden authentischen künstlerischen Akt angesehen wurde, auch als stilistische Metapher, als persönliche Note. Eine Ironie angesichts der Produktion der heutigen Welt, in der die Wiederholung die notwendige Voraussetzung für das sofortige Wiedererkennen ist, zu einer Zeit, da, trotz manchen Versuchs, das Werk eines Künstlers immer mehr ausschließlich durch ein gegen unendlich tendierendes Bild, ein generisches Bild, existiert und sich definiert. Automatisch. Bild-Unterschrift. In gewissem Sinne widersetzt sich Erwin Wurm dem Prinzip der Wiederholung und der Bestätigung eines Bildes durch einen Stil, da dadurch die Möglichkeit des „sich selbst Imitierens“ eröffnet wird.
Erwin Wurms Arbeit ist wie eine Folge von Aktionen, wobei die Kunst als ein bis ins Extrem ausgedehntes Abenteuer betrachtet wird.
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Carpe Diem oder das ewige Kunstwerk
Die Arbeiten von Erwin Wurm sind weder romantisch noch nostalgisch, sie sind auch keineswegs Ausdruck irgendeines Fetischismus, sie unterstreichen in ihrer ephemeren Existenz die extrem zerbrechliche Vergänglichkeit der Bilder und Informationen dieser Welt, die offensichtlich immer durch andere ersetzt werden können. Das Zeitalter der Dringlichkeit, das Zeitalter des Augenblicks. Carpe diem. Die Werke Erwin Wurms sind wie Momentaufnahmen. Im Augenblick ihres Entstehens erstarren sie. Das Werk als „vergängliche Stütze der Aktion, die selbst reines Werden ist“ (Maurice Blanchot). Indem Erwin Wurm die Möglichkeit zur „Reaktivierung“ der Werke anbietet, verkehrt er das, was allgemein als eine authentische Geste betrachtet wird, das was „par essence“ nicht dupliziert werden kann, nur einmal in Erscheinung tritt, wieder ins Gegenteil. Die Gebrauchsanweisung und das „do it yourself‘ entweihen gewissermaßen den geheiligten Raum des Kunstwerks. Diese Möglichkeit seine Werke unmittelbar nach ihrem Verschwinden erneut zu reaktivieren, führt eine neue Zeitlichkeit ein. Eine ohne Unterlaß erneuerte Zeitlichkeit. Die Möglichkeit einer permanenten Erneuerung, eines Ausgangspunkts. Ewig. Metaphern des Beginns, die aus jedem Werk sprechen, der ewige Neubeginn. Das Werk bleibt unendlich und nicht endlich. Immer im Prozeß. Es verweist auf seinen Ursprung und „reaktiviert“ seine blitzartige Erscheinung. Sagte nicht Maurice Blanchot, daß „es immer ursprünglich, originell und in jedem Augenblick Beginn ist: daher erscheint es immer wieder neu, das Trugbild der unerreichbaren Wahrheit der Zukunft. Und es ist ,jetzt‘ neu, es erneuert dieses ,jetzt‘, das es zu imitieren scheint, macht es aktueller und ist letztlich doch sehr alt, erschreckend alt … “
Anlässlich der Ausstellung „Erwin Wurm“, die 1994 und 1995 im Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, im Kunstmuseum St. Gallen und im Kunstverein Freiburg gezeigt wurde, erschien ein umfangreicher Katalog mit Texten von Stephan Berg, Rainer Fuchs, Lóránd Hegyi, Jérôme Sans, Andreas Spiegl, Laura Trippi, Roland Wäspe. Dort findet Ihr die ungekürzte Fassung dieses Textes auf Seite 57 bis 70.
© des Textes beim Autor
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