Blick in die Ausstellung „Fantastische Welten“: Kontextualisierung eines Stilphänomens.

Sind die expressiven Tendenzen in der Kunst des 16. Jahrhunderts wirklich nur ein Phänomen, dass der sogenannten Donauschule zugeschrieben werden kann? Diese Frage stellt sich die aktuelle Schau „Fantastische Welten – Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst im 1500“ im Städel Museum. Sie findet die Antwort in einer geografisch weit gefassten Kontextualisierung des Stilphänomens. Dafür aber muss ein wohl etablierter Begriff der Kunstgeschichte abgelegt werden.

Kontext Europa

Einer vergleichbaren ausdrucksstarken Kraft, wie sie der Malerei Albrecht Altdorfers inne wohnt, begegnen wir in Werken des süddeutschen Raums von Künstlern wie Wolf Huber (um 1485–1553), Meister IP (tätig bis nach 1520) und Hans Leinberger (dokumentiert in Landshut 1510–1530). Das Expressive um 1500 aber erweist sich als ein europäisches Phänomen. Ob bei norddeutschen, oberrheinischen oder gar niederländischen Meistern – an verschiedenen kontinental-europäischen Orten im 16. Jahrhundert lassen sich Tendenzen in der künstlerischen Gestaltung aufzeigen, die mit jenen der süddeutschen Maler verwandt sind.

Europa als ein Netz künstlerischer Impulse: Blick in die Ausstellung „Fantastische Welten“.

Das nur langsam aus der Vielstaatlichkeit herauswachsende Heilige Römische Reich prägten Zentren der Macht – Handelsstädte, Bistümer, Adelssitze, kaiserliche und königliche Residenzstädte. Künstler waren nicht an einen Ort gebunden, geschweige denn ihre Kunstwerke, die durch den aufkeimenden Handel weit reisen konnten. Auch die Auftraggeber reisten – oder sie holten sich die gefragten Künstler an ihren Hof. Allerdings ist die Quellenlage für das 16. Jahrhundert äußerst dürftig. Selbst die sechs Meister, die das monumentale Hochaltarretabel der Zisterzienserkirche von Zwettl in Niederösterreich schufen, sind bis heute anonym. Doch spannt sich über Europa ein Netz künstlerischer Impulse, das durch stilistische Vergleiche nachvollziehbar wird.

Der frische Blick

Lange Zeit verstellte der problematische Begriff der „Donauschule“ eine geografisch weit gefasste Betrachtung des Expressiven um 1500. Ende des 19. Jahrhunderts, also in den Kinderschuhen der akademischen Kunstgeschichte, war es der Kunsthistoriker Max Jakob Friedländer, der den Renaissance-Maler Albrecht Altdorfer aus der Vergessenheit holte. Der Begriff der Donauschule bzw. des Donaustils bildete sich in Reaktion auf die Friedländer-Monografie in Wien und ist geprägt von den Kunstdiskursen des 19. Jahrhunderts: Die Aufwertung der Landschaft, die stimmungsschwere Ausdruckskraft grotesker Welten und die Fantastik des künstlerischen Entwurfs sind Themen, die wir auch in der zeitgenössischen Kunstproduktion des 19. Jahrhunderts verhandelt wissen. Sogar ein volksnaher, genuin deutscher Geist wurde der mittelalterlichen Kunst zugeschrieben und im weiteren Verlauf der Geschichte wurde aus dem Stilbegriff der Donauschule ein abgeschlossener, süddeutscher Kulturraum konstruiert – eine Vorstellung, die so heute nicht mehr haltbar ist.

Wolf Huber (1485–1553); Gefangennahme Christi, nach 1522; Lindenholz, 60,5 x 66,8 cm; Bayerische Staatsgemäldesammlungen/ Alte Pinakothek, München; Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen/ Alte Pinakothek, München

Vergleichslinien ziehen

Denn weit über Mitteleuropa reichen die stilistischen Verwandtschaften zwischen expressiven Künstlern. So wird etwa die Bildfläche in Wolf Hubers „Gefangennahme Christi“ durch das kompositorische Mittel horror vacui bestimmt, die Abscheu vor der leeren Fläche. Die Rüstungen der Schergen sind reich verziert, wild durcheinander gehen die Handlungen ihrer Träger und ihre Waffen verhindern den Blick auf die Landschaft im Hintergrund. Doch vor der Christusfigur bildet ein Stückchen freier Boden wenigstens ein bisschen Bildtiefe. Huber versteht es, den Blick auf Christus zu lenken, indem dieser der einzige ruhige Pol in einem kleinteilig durchgestalteten, dynamisierten Bildraum ist. Der Schnitzer des oberrheinischen Katharinen-Martyriums bedient sich ebenfalls dieses Kunstgriffs, ähnlich wie auch der niederländische Meister, der die „Gefangennahme Christi“ auf dem Flügel des Retabels von Milmort um 1520/30 malte. Neben dem ausgewähltem Kolorit findet sich hier ein weiteres expressives Mittel gesamteuropäischer Vergleichbarkeit: Die Gewänder der Figuren scheinen sich verselbstständigt zu haben.

Verselbstständigte Expressivität

Dieses Stilmittel der verselbstständigten Gewandung lässt sich auch in zeitgleich entstandenen Skulpturen finden. Eindrucksvoll beweist dies die Figur „Heiliger Abt“, die wahrscheinlich ein niederbayerischer Bildschnitzer ebenfalls um 1520/30 schuf. Den schwingenden Körper umgreift ein wucherndes Gewand, in eigenwilliger Lebendigkeit. Zwar unterstreicht es die Bewegung der Figur, doch verunklärt es die Kontur durch rätselhafte Strudel – etwa an der Kapuze –, schwer wiegende Schwünge – wie an dem rechten Ärmel – oder unlogisch knittrige Falten, die wie zusammengedrückte und wieder glattgestrichene Alufolie aussehen. Selbst das Gesicht des Ehrwürdigen vibriert in wellenförmigen Falten.

Niederbayerischer (?) Bildschnitzer; Heiliger Abt, zwischen 1520 u. 1530; Lindenholz, ohne Fassung, 132 x 47 x 39 cm; Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main; Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK

Auch die Locken der Apostel des niederösterreichischen „Hochaltarretabels der Zisterzienserkirche Zwettl“ wuchern ungehemmt. Dagegen wachsen aus den kantigen Versteifungen der Gewandung des „Heiligen Thomas aus dem Güstrower Apostelzyklus“ von Carl Berg (um 1475–1535) expressive Architekturen. Der Bildschnitzer war kurz vorher aus dem reformierten Dänemark in das katholische Mecklenburg umgesiedelt. Nicht durch Naturphänomene wie etwa einem Windstoß sind die stilistischen Auswüchse zu erklären, sondern durch das künstlerische Ziel, eine starke, raumgreifende Figur zu gestalten. Dieses Interesse verbindet die süddeutschen mit den böhmischen, den rheinischen, den niederländischen und sogar den mecklenburgischen und polnischen Künstlern.
Durch die Ausweitung auf den europäischen Kontext kann das Expressive um 1500 aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Schon der Kunsthistoriker Friedländer (Die Antwerpener Manieristen von 1520, 1915, S. 91) plädierte für einen Vergleich zwischen den süddeutschen Künstlern und den Antwerpener Manieristen – diesem Teil seiner These wurde allerdings weniger Aufmerksamkeit zuteil.