Bei den Dreharbeiten der Aktion „Sculture viventi“ in Mailand, Januar 1961. © Courtesy Fondazione Piero Manzoni, Mailand

Bei den Dreharbeiten der Aktion „Sculture viventi“ in Mailand, Januar 1961. © Courtesy Fondazione Piero Manzoni, Mailand

Aa ist bäh bäh, so lehrt es die Mutter dem Kleinkind. Darauf folgt bald die Lektion, dass das Örtchen, ein stilles, gerne auch latinisiert als Lokus bezeichnet, die Stelle ist, an die sich der Mensch zurückzieht, um sich der Notdurft in aller Abgeschiedenheit zu entledigen. Und nicht zuletzt: Übers Aa-Machen spricht man nicht. Denn man läuft Gefahr, dass sich das Gegenüber diesen Akt plastisch vorstellen könnte.

Delikater Inhalt

Die Ausstellung „Piero Manzoni. Als Körper Kunst wurden“ im Städel Museum präsentiert das Werk eines Künstlers, dem man nachsagen könnte, dass er seine gute Stube vergessen hat. Seine große Notdurft verrichtete und hinterließ Piero Manzoni (1933–1963) zwar wie die meisten auch an dem Ort, den die moderne Zivilisation dafür vorgesehen hat. Aber ein Teil davon landete – angeblich – abgepackt in 90 kleinen, luftdicht verschlossenen Blechdosen. Und zwar summa summarum 2,7 Kilo. Die Dosen sehen auf den ersten Blick aus wie handelsübliche Konserven. Ihre Etiketten weisen die gängigen Angaben aus – den Inhalt: Künstlerscheiße, natürlich erhalten; das Gewicht: 30 Gramm netto; das Produktions- und Abfülldatum: Mai 1961 – nur das Mindesthaltbarkeitsdatum fehlt. Es ist die radikalste Geste im Werk Manzonis und deshalb auch die wohl bekannteste Werkgruppe des italienischen Nachkriegsavantgardisten. Ihr Provokationspotential ist bis heute ungebrochen. Und auch heute noch darf man fragen: Was soll der Scheiß?

Merda d’artista N. 038 (1961). © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Merda d’artista N. 038 (1961). © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Paradigmenwechsel

Trotz seines kurzen Lebens – er verstarb bereits im Alter von 29 Jahren angeblich an einem Herzinfarkt – gilt Manzoni als einer der folgenreichsten Künstler der italienischen Nachkriegskunst. Er steht am Knotenpunkt einer Zeit, in der die künstlerische Kreation und das Auratische eines Kunstwerks völlig in Frage gestellt wurden. Sein Werk spiegelt und forciert das Aufkommen eines neuen Kunstbegriffs, den er mit seiner Konzeptkunst radikal erweiterte. Manzoni erhob jetzt den (Künstler-)Körper zum biologischen Medium der Kunstproduktion – ein ziemlich unorthodoxes und flüchtiges Material. Die physischen Spuren des Menschen begann er zum Ende der 1950er Jahre mit seinen „Corpi d’aria“ (Luftkörper) und „Fiato d’artista“ (Künstleratem) einzufangen. Diese „pneumatischen Skulpturen“ waren Luftballons, die mit dem Atem des jeweiligen Besitzers oder aber des Künstlers selbst befüllt wurden. Als verpackte Körperäußerungen schwanken diese Arbeiten zwischen Gegenstand und Biologie, zwischen Dinglichkeit und Konzept. Manzoni äußerte sich dazu in einem Interview: „Wenn ich einen Luftballon aufblase, atme ich meine Seele in ein Objekt, das dadurch ewig wird.“ Die erschlafften Resultate dieses performativen Akts sind in der Ausstellung zu sehen: Eine auf einem hölzernen Plateau aufgebrachte, für die Ewigkeit konservierte menschliche Flüchtigkeit.

Ein Hauch von Kunst: Manzonis „Fiato d’artista“ (1960). © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Ein Hauch von Kunst: Manzonis „Fiato d’artista“ (1960). © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Kunst geht durch den Magen

In der Mailänder Galleria Azimut startete Manzoni am 21. Juli 1960 die 70-minütige Aktion „Consumazione dell’arte“. Den Gästen offerierte er 150 gekochte Eier, die er mit seinem Daumenabdruck markierte. Mit dieser performativen Nahrungsaufnahme bezog er den Körper anderer in seine Arbeit mit ein. Parallel zur Kunstverzehr-Aktion entstanden eine Reihe weiterer mit seinem Fingerabdruck versehene Eier, die er auf Watte bettete und in nummerierte, datierte und signierte Holzschachteln packte. Damit deklariert und erhöht Manzoni ein alltägliches Lebensmittel zu einem Objekt der Kunst. Mittels der physischen Spur seines Fingerabdrucks eignet sich der Künstler den Gegenstand körperlich an, reduziert seine Präsenz und Autorschaft dadurch aber zugleich auf ein Minimum. Hinzu kommt eine unwillkürliche Assoziation mit der erkennungsdienstlichen Erfassung von Straftätern, die den Objekten etwas Anrüchiges verleiht.

Forensisch unleugbar ein Manzoni: Uovo N. 11 (1960). © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Foto: Alex Kraus

Forensisch unleugbar ein Manzoni: Uovo N. 11 (1960). © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Foto: Alex Kraus

Lebende Skulpturen

Formal ähneln die signierten Eier der kurze Zeit später entstandenen Werkgruppe der „Sculture viventi“. Bei diesen „lebenden Skulpturen“ ist es hingegen nicht der Fingerabdruck des Künstlers, der ein Objekt zum Kunstwerk deklariert, sondern die Künstlersignatur. Zum Träger wird in diesem Fall der menschliche Körper. Die Aktion wurde im Januar 1961 im Studio des Filmgiornale SEDI in Mailand filmisch und fotografisch festgehalten. Die Aufnahmen zeigen Manzoni unter anderem beim Signieren der Hüftregion zweier fast hüllenloser Frauen. Begleitend zu der Aktion wurden sogenannte „Carte d’autenticità“ ausgegeben, welche die Echtheit des von Manzoni geschaffenen Kunstwerks beurkundeten. Die fortlaufend durchnummerierten Zertifikate, wovon auch in der Ausstellung einige Exemplare zu sehen sind, enthalten den Wortlaut: „Es wird bestätigt, dass [Name] durch meine Hand signiert wurde und daher ab sofort als echtes und wahres Kunstwerk anzusehen ist.“ Die Ironie der Aktion wurde noch gesteigert, indem die signierten und datierten Dokumente durch verschiedenfarbige Wertmarken versehen wurden. Diese sollten den Grad der künstlerischen Durchdringung des Körpers anzeigen. Sie unterschieden etwa, ob nur ein einzelnes Glied oder der gesamte Körper als Kunstwerk anzusehen war und ob dieser Zustand temporär oder lebenslänglich andauern sollte. 73 Personen, oder besser Körper, wurden auf diese Weise zum Kunstwerk – zu „echten Manzonis“ also. Kunstwerk konnte auch werden, wer sich auf einen von fünf eigens zum Zweck des Kunstwerdens geschaffenen Sockel stellte. Auf diesen ebenfalls 1961 entstandenen „Basi magiche“ – 60 Zentimeter hohe Sockel aus Sperrholz – weisen zwei Filzsohlen dem designierten Kunstwerk seine Position. Ein dezentes Messingschild mit der Aufschrift „Piero Manzoni / Scultura vivente“ nennt den Urheber sowie das zugrundeliegende Konzept, das eine Weiterführung der Idee des Signierens auf Körpern darstellt. Hier ersetzt der reine Akt des Besteigens und Stehens auf dem Sockel Manzonis künstlerische Geste der eigenhändigen Namenszeichnung. Die Anwesenheit des Künstlers wird überflüssig, der Körperdiskurs verselbständigt sich.

Im Hintergrund die "magischen Sockel": 60 Zentimeter hohe Sockel aus Sperrholz. © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Foto: Alex Kraus

Im Hintergrund die „magischen Sockel“: 60 Zentimeter hohe Sockel aus Sperrholz. © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Foto: Alex Kraus

Dukatenscheißer Manzoni: Aus Scheiße Gold gemacht

Wenn Kunst bei Manzoni mittels Eierverzehrs durch den Magen geht, dann muss sie in letzter Konsequenz auch irgendwo wieder herauskommen. Logisch. Mit dem Vorgang der Verdauung und der Körperausscheidung schließt sich der biologische Kreislauf, der sich als Manzonis „Künstlerscheiße“ in Blechdosen objektiviert. Einer Assoziation mit dem Spruch „aus Scheiße Gold machen“ war sich der Künstler sehr wohl bewusst. Entwaffnend verkaufte er seine Dosen angeblich zum damaligen Gegenwert einer Feinunze Gold. Die Ungewissheit über die „Materialechtheit“ der eingedosten Substanz bleibt bis heute virulent. Unsere Zweifel gehören zum Konzept. Es schließt auch Fragen mit ein wie etwa: Wie lange hat es gedauert, bis Manzoni die 2,7 Kilo Scheiße produziert hat? Oder auch: Was mag er wohl am Vortag gegessen haben? Und, wie lange hält sich der Inhalt in den Dosen eigentlich frisch? Man könnte Christoph aus der Sendung mit der Maus befragen; aber die Hoffnung, dass man sich dort dieser Frage annähme, ist gering. Denn: übers Aa-Machen spricht man nicht.