Max-Beckmann-Preisträger Otto Piene im Städel Garten, Februar 2013

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Kulturdezernent,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Elizabeth Goldring-Piene, lieber Otto Piene!

In der Regel verbindet einen Laudator mit dem zu Würdigenden eine jahrzehntelange Gemeinschaft und Lebensgeschichte. Ich aber muss feststellen, als Otto Piene sein wirkungsvolles Schaffen begann, seine richtungsweisenden Raster-, Rauch- und Feuerbilder präsentierte, die außerordentlichen Lichtballette inszenierte, als sich dann „Zero“ von Düsseldorf aus in der Welt vernetzte und etablierte, der große Lichtraum bei der documenta III zu sehen war, war ich noch überhaupt nicht auf der Welt. Auch für das Erleben der ersten „Sky Art Events“ war ich viel zu jung, Pienes gigantischen Olympia Regenbogen in München 1972 konnte ich nicht bestaunen. Das faszinierende Gruppenprojekt „Centerbeam“ bei der documenta 6 war ebenfalls noch vor meiner Zeit als Kunstbegeisterter. Die spektakuläre Bespielung der National Mall in Washington mit einer „Sky Oper“ habe ich nicht gesehen und auch die Cellistin Charlotte Moorman sah ich nie durch Otto Pienes „Sky Kiss“ durch die Lüfte fliegen.

Jedes Mal jedoch, wenn ich später auf Werke Pienes in den letzten Jahren stieß, ob in Sammlungen, öffentlichen Räumen, bei Festivals, Ausstellungen – wie etwa in der Schirn die OP Art Ausstellung mit seinem fulminanten Lichtraum – war sofort ein Bewusstsein da für ein Werk, das seit Jahrzehnten über jegliche Grenzen geht, neues Terrain erschließt, eine Stringenz in aller Wandlungsfähigkeit besitzt und welches von einer Künstlerpersönlichkeit hervorgebracht wird, die außerordentlich ist.

Mit Otto Piene wird heute ein international hochbedeutender Künstler geehrt, der ein Vorbild ist für das künstlerische Schaffen und Handeln in unserer heutigen Zeit. Otto Pienes Werk, ebenso wie sein Verständnis für den Aktionsradius und die Möglichkeiten der Kunst, als auch sein Einstehen für die Verantwortung des Künstlers als Vermittler ist beispielhaft.

So ist es nicht nur das komplexe und facettenreiche Werk Otto Pienes, das so ungemein beeindruckt, sondern auch sein unermüdlicher Einsatz als Lehrender, als Verbindender, als Handelnder, als Antreiber und Ermöglicher kollektiver Kunsterlebnisse und -entwicklungen.

Otto Piene ist ein großer Wegbereiter für eine neue Kunst und eine grundlegende, künstlerische Haltung. Bewundernd stehen wir heute – umgeben von Kunstwerken, die mit Ironie, Subversivität und Dekonstruktion an einer postmodernen Haltung arbeiten – vor dem Optimismus, der utopischen Sehnsucht, dem Willen zur kollaborativen Umsetzung und der originären Kraft der Werke von Otto Piene und seinen Zeitgenossen.

Otto Pienes Kunst ist die eines Neuanfangs, eines Reset. Als Reaktion auf das Geschehene ist diese Kunst eine grundlegende, ästhetische Sensibilisierung und Erweiterung des Blicks durch die Nutzbarmachung der Elemente – insbesondere das Licht als Materie in seiner zeitlichen und räumlichen Dimension – und damit der Eroberung von Raum und Atmosphäre als notwendiger künstlerischer Plattform.

Otto Piene, Schwarzer Mond, Feuerbild / Öl, Pigmente, Feuer und Rauch auf Leinwand, 2006 / 2007, 50 x 50 cm , Foto: Galerie Christine Hölz

Wie bei vielen Künstlern seiner Generation war Pienes Arbeit zuerst geprägt von einer Verarbeitung des Schreckens, der Zerstörung, des Wahnsinns, des prekären Zustands – bei Piene erfolgte daraus der Impetus eines Neubeginns und der Notwendigkeit einer fundamental anderen Perspektive.

Symptomatisch dafür ist die Erzählung des Künstlers über ein Erlebnis im Jahr 1945. Bei Kriegsende zog es den 17-jährigen Flakhelfer Otto Piene von Schleswig-Holstein aus nicht sofort südwärts nach Hause, sondern zuerst nach Westen, zur Küste, um endlich einmal das Meer zu sehen. Er erreichte nicht das Meer, aber die Elbe und es entstand ein gänzlich anderer Eindruck:
„Ein Bild hat mich selten losgelassen: die spiegelglatte Nordsee im Gegenlicht des 7. Mai 1945. Eigentlich war es die Elbe, der unendlich weite Fluss in Glückstadt bei Hamburg. Nach der Auflösung unserer Arbeitsdienst-Infanterie-Division, der ich zugehörte – ich war gerade erst vor zwei Wochen 17 geworden – befand ich mich auf dem Weg nach Hause, aber nicht gleich südwärts. Ich nahm an, dass das Kriegsende auch das Ende aller Gefahren bedeuten würde, und so machte ich einen Umweg, um die See zum ersten Mal in meinem Leben zu sehen. Um Mittag ging ich von Osten her auf den Deich zu und dann durch ein Tor: da war es und funkelte wie Quecksilber, reines Licht auf der Wasseroberfläche, eine blendende, atmende, heißkalte Fläche.
Sie war das Gegenbild gerade erst durchlebter Erfahrungen. Der blaue Himmel war ein Zeichen des Schreckens im Luftkrieg gewesen. Er hatte gutes Flugwetter bedeutet, Tieffliegerangriffe und Bombardierungen. Als Kanonier bei einer Vierlings-Flak hatte ich, inmitten von Explosionen, nachts immer die Leuchtspurgeschosse in ihrer hektischen Schönheit ihre Bahnen ziehen sehen. Aber Furcht kam vor Schönheit: Sehen war Zielen.
Die anonyme Kriegsmacht lässt sich von den faszinierenden Bildern, die ihre Betätigung erwirkt, in ihrer Selbstgefälligkeit nicht stören. Die explodierende Atombombe wäre die perfekte kinetische Skulptur, wenn wir sie ohne zu zittern betrachten könnten. Furcht ermutigt zu Erfindungen und gebiert gigantische Ungeheuer. Wie groß ist die Kunst? Wie klein ist die Kunst?“

Es war wohl, inmitten der physischen und psychischen Verwüstung und Zerstörung, eine erste fundamentale Erkenntnis, die Otto Piene den Weg wies –  über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer ästhetisch-atmosphärischen Auseinandersetzung mit der Natur und dem Menschen, mit Licht und Raum und den grundsätzlichen Erfahrungsebenen der persönlichen Existenz.

Otto Piene, Rote Lichtkugel, 2005, Durchmesser 100 cm; Foto: Galerie Christine Hölz

Einige Jahre später galt es mit einem Optimismus und Zukunftsglauben ein neues künstlerisches Zeitalter nicht nur einzuläuten, sondern mit zu erschaffen, es geistig und ästhetisch zu prägen. Nach dem Krieg wird Otto Piene Malerei, aber insbesondere auch umfassend Philosophie studieren, er wird – was ihn ein Leben lang nicht nur begleiten wird, sondern auch als Persönlichkeit ausmacht – früh Lehrer und Vermittler.

Der moderne Alchemist Otto Piene siebte zu der Zeit Licht und Farbe, bannte Rauch und Feuer auf Gemälde, entwickelte Lichtballette und ließ so ein künstlerisches Werk aus der Manipulation der Grundelemente entstehen. Er lebt und arbeitet ab 1950 in Düsseldorf, wo sich ein hochaktives Kunstzentrum gerade auch mit und durch Otto Piene und seinen Freunden Heinz Mack und Günther Uecker und zahlreichen anderen entwickeln sollte. Man erkennt gemeinsame Ideen. Gedanken und Interessen bündeln sich und es bilden sich Gemeinschaften.

„Zero“ ist dabei der Beginn, die neue Zone von Möglichkeiten. „Zero“ – wie so oft formalisierte sich eine bahnbrechende neue Entwicklung, eine neue künstlerische Haltung, ein Pakt der gemeinsamen künstlerischen Revolution an einem eigenwilligen Ort. „Zero“ entstand als Name in Fatty’s Atelier, einer Kneipe in der Düsseldorfer Altstadt. Von Fatty’s Atelier sollte die „Zero“-Gemeinschaft die Welt erobern. Otto Piene, Heinz Mack und etwas später Günther Uecker als Kerngruppe entwickelten mit vielen anderen und mit multiplen internationalen Vernetzungen eine neue künstlerische Bewegung.

„Zero“ – war das Erreichen eines neuen Ursprungs- und Anfangspunkts, Reinigung und Reduktion, Struktur, Raum, Licht und Dynamik, der optimistische Glaube an das Zusammenwirken von Kunst, Technik und Wissenschaft.

Und „Zero“ erzeugte als erste Kunstbewegung aus Deutschland heraus eine ungemeine Internationalisierung, eine Kommunikation über die Grenzen hinweg und ein Sich-Vernetzen mit der Avantgarde ihrer Zeit – sicherlich keine einfache Aufgabe als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg und insofern muss man im Nachhinein darin auch einen wesentlichen, ja historischen Beitrag zur Normalisierung des kulturellen Dialogs und der neuen künstlerischen Gemeinschaft feststellen. Piene, Mack und Uecker als Kern der „Zero“-Gruppe waren mit zahlreichen deutschen Künstlern verbunden, aber auch mit Yves Klein, Fontana, Manzoni, Tinquely, Spoerri, Arman, Soto und anderen.

„Zero“ war ein Aufbrechen der Grenzen, der Ideologien, der Nationalitäten hin zu einer gemeinsamen, grenzüberschreitenden, kulturellen Initiative und Verbundenheit. Düsseldorf, das Rheinland, die Galerie Schmela sollte hier eine entscheidende Rolle spielen, aber auch Frankfurt war eingebunden. Der Galerist Rochus Kowallek und der Künstler Hermann Goepfert organisierten Ausstellungen, 1963 fand in der Schwanenhalle des Römers in Frankfurt mit der Ausstellung „Europäische Avantgarde“ mit 47 Künstlern eine erste Überblicksausstellung von „Zero“ und seinem Umfeld statt, bei der Frankfurter Experimenta zeigte Otto Piene ein höchst eigenwilliges Theaterstück.

„Zero“ war hoffnungsvoll und idealistisch, aber beileibe nicht ohne Humor, das sei an diesem Faschingsdienstag besonders erwähnt. 1964 nahmen Piene, Mack und Uecker am Rosenmontagszug mit ihrem „Zero“-Prunkwagen teil, alle drei schwarz gekleidet, mit riesigen Zylindern und mit großer Null auf der Brust. „Zero“ war immer auch ein kollektives Ereignis und eine Verbreitung der künstlerischen Wirkungsbasis. In „Zero“ war schon viel enthalten von zukünftigen Entwicklungen der Land und Environment Art ebenso wie der Performance Art.

Mit Otto Piene erlebt die Kunst ihre bisher allergrößte Expansion des Wirkungsraums. 1947 signiert Yves Klein, dieser Geistes- und Seelenverwandte der Zero Künstler, den mediterranen Himmel. Doch nur mit einer solchen konzeptionellen Geste gab sich Otto Piene bei Weitem nicht zufrieden. Der Himmel sollte bei ihm vielmehr tatsächlich erreicht, betreten, bespielt werden, der Himmel sollte erkannt und erobert werden als zentraler und notwendiger Ort der künstlerischen Möglichkeiten.

Otto Piene, Rasterbild auf Karton, 1957 / 1986, 72 x 102 cm , Foto: Galerie Christine Hölz

Der Himmel, im zweiten Weltkrieg Schauplatz schwerer Gefechte, Unheilbringer in den Bombennächten, erhellt durch die Feuer der Explosionen, wird durch Piene eine grundlegende künstlerische Handlungsplattform:
Piene dazu im ZERO 3 Katalog: „Ja, ich träume von einer besseren Welt. Sollte ich von einer schlechteren träumen? Ja, ich wünsche mir eine weitere Welt. Sollte ich mir eine engere wünschen? (…) Wann ist unsere Freiheit so groß, daß wir den Himmel zwecklos erobern, durch das All gleiten, das große Spiel in Licht und Raum leben ohne getrieben zu sein von Furcht und Mißtrauen (…) Wir haben bisher dem Krieg überlassen, ein naives Lichtballett für den Nachthimmel zu ersinnen, wie wir es ihm überlassen haben, den Himmel mit farbigen Zeichen und provozierten Feuersbrünsten zu illuminieren. (…) Warum machen wir keine Kunst für den Luftraum, keine Ausstellungen im Himmel?“

Diesen Weg sollte Piene auch nach Auflösung der „Zero“-Gruppe konsequent fortsetzen und es entstanden große, gigantische, ephemere Werke. Wie wenige andere formulierte Piene seine künstlerische Vision in ausführlichen Manifesten, Erklärungen und Schriften. Für den damaligen Leser oder Hörer mögen Pienes Worte wie ein Oszillieren zwischen dem Utopischen und dem Machbaren geklungen haben, doch im Nachhinein muss man feststellen, dass Piene vieles, das wohl Utopisch anmutete, tatsächlich realisiert hat, indem er sich die Freiheit dafür genommen hat.

Otto Piene in seinem Vortrag in Harvard 1966:
„Ich wünsche mir die Verwirklichung folgender Träume:
Daß das Nordlicht provoziert und als monumentales Lichtspiel dirigiert werden könne, daß riesige Symbole aus Licht die neuen Denkmäler und zugleich die Luftverkehrszeichen der Städte werden, ein Spiel provozierter Regenbogen am Himmel, hervorgerufen durch künstliche Wolken oder Wasserstrahlen, die Lichtstrahlen von großen Dimensionen brechen; friedliche Anwendung von „sauberen“ Atombomben unter intelligenter Kontrolle als stratosphärisches Feuerwerk bei festlichen Anlässen; wissenschaftliche Untersuchung von Luftspiegelungen und daraus resultierend   gelenkte, wiederholbare und wechselnde Herstellung von fata morgana; die Zähmung von laser-Strahlen für ästhetische Zwecke; Lichtballetts an und in künstlichen Wolken.

Pienes Orte für die Kunst sind andere und er wird den Himmel über Alaska genauso wie die Vulkane auf Hawaii bespielen, er spannt Regenbogen im Sun Valley und lässt gigantische Blumen in der Wüste erblühen.

Wie so viele Künstler in dieser Zeit zog es Otto Piene früh in die USA, in das „land of the free“. Er aber sollte dort bleiben und nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine Lehrtätigkeit ab den sechziger Jahren in den USA etablieren. Für Piene, der in seinem Leben nach eigenen Aussagen den Atlantik wohl mindestens 500 Mal überquert hat, sollte insofern der USA-Aufenthalt kein Gastspiel sein, wie für viele andere europäische Künstler, keine Inspiration, sondern eine fortwährende, transatlantische, künstlerische und lehrende Tätigkeit. Piene nahm schon 1964 den Ruf als Gastprofessor an der Universität von Pennsylvania an, viele weitere Lehrtätigkeiten sollten folgen.

Amerika, das war für Otto Piene wohl von Anfang an nicht nur der Sehnsuchtsort, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern auch das Land der grenzenlosen Flächen für die Umsetzung seiner immer größer angelegten Projekte. Piene sollte wie kein anderer die Ideen von „Zero“ auf die größtmögliche räumliche Dimension anwenden und eine vollkommen neue, natürliche Kunst des allumfassenden, temporären Environments schaffen.

Otto Piene hatte dabei die amerikanische „Can do“-Mentalität wohl schon in Düsseldorf im Blut, in Amerika konnte er sie ausleben. Und das zweite amerikanische Dogma, das „must succeed“, war ihm ein Leitfaden zur Überwindung von allen Hindernissen, die einem vehement entgegenschlagen, wenn man im so großen Maßstab, im so großen Umfeld arbeitet. Es ist der Elan des Optimismus, der einen weiterträgt.

Der Künstler in einer Vorlesung in Harvard im Jahr 1966:
„Vielleicht würden die Menschen in den Städten der Zukunft zu Kunstwerken hochblicken, die über den Zonen reinen Lichts und reiner Stille stehen. Sie mögen Plastiken in der Art von Flugzeugen, oder Ballons oder atmende Gebilde mit fliegenden Kiemen oder die Haut der Stadt in merkwürdigen Farben sein. Oder nichts von alledem. Nur ein Lichtstrahl. Ein Lichtstrahl zum Mond und ein Regenbogen.
Vielleicht werden die Künstler einflußreicher sein: die Sinne zu wecken, entwickeln und verfeinern – die Akkumulatoren menschlicher Intelligenz.“

Mit seinen Lichträumen und der „Sky Art“ setzt Piene die Ideen aus den späten 50er Jahren konsequent fort, erobert dabei im wahrsten Sinne neue Räume und Erlebnismöglichkeiten. „Sky Art“ ist eine ephemere Kunst, sie lebt weiter in der Erinnerung der Teilnehmer. Sie ist ein kollektives Ereignis, es sind Gemeinschaftswerke die nur durch das Zusammenwirken und den Willen vieler Kräfte entstehen. Zum Zeitpunkt der künstlerischen Aufführung stellen diese Werke ein partizipatives Ereignis dar, welches danach Spuren nicht nur in der Erinnerung des Einzelnen, sondern auch in der kollektiven Sensibilisierung für den natürlichen Lebensraum hinterlässt.

„Seit 1967 habe ich hauptsächlich an Plastiken und Projekten gearbeitet, weil sie einem größeren Publikum zugänglich sind als die privaten Äußerungen Bild, Zeichnung, Gouache, weil sie größer sind, mehr den Elementen ausgesetzt sind, zum Mittun einladen und eine öffentliche Funktion erfüllen. Städte und Landschaften wurden meine Werkstatt und große Menschengruppen meine Partner.“

Otto Pienes außergewöhnliche Leistung besteht insbesondere auch in einem umfassenden Kunstbegriff, der nicht nur die Vereinigung mit der Natur und die Betonung der ökologischen Themen beinhaltet, sondern der auch die Multidisziplinarität als Grundelement eines neuen Schaffens verstanden, praktiziert und gefördert hat. Und das Fördern Anderer, das Vermitteln und die Weitergabe von Wissen, das Verbinden mit anderen Wissensbereichen ist was Otto Piene durch seine grundlegende Arbeit als langjähriger Leiter des Center for Advanced Visual Studies am Massachusetts Institute of Technology etabliert hat. Ein interdisziplinäres Ideenlaboratorium, eine Werkstatt der Kooperation zwischen Künstlern, Ingenieuren und Wissenschaftlern.

Es gibt wohl keinen anderen Künstler seiner Bedeutung und Position, der derart viel Energie, Zeit, Enthusiasmus und Perspektive in die Lehre und Etablierung eines solchen multidisziplinären, experimentellen und kreativen Forschungs- und Lehransatzes gelegt hat – und damit auch ein Beispiel für die Entwicklung anderer Kunst- und Wissenszentren, die sich darauf folgend in eine ähnliche Richtung etabliert haben, gegeben hat.

Das Center for Advanced Visual Studies unter Otto Pienes Leitung am MIT ist ein Symbol für das Vertrauen und die Bedeutung von Kunst zur Gestaltbarkeit der Zukunft. Es ist auch Otto Pienes Verdienst, die Kunst in diesem Kontext vertreten zu haben, ja ihre Stellung und ihren Stellenwert verteidigt zu haben in einer nach Normierungen und messbarer Effizienz gesteuerten Welt, in der Kreativität, das Schöngeistige vermeintlich weniger bedeutend für den Lauf der Welt sind. Der Technologie, der fortschrittsorientierten Wissenschaft, der Faszination für das Ingenieurwesen muss das Schöpferische, Phantastische, Träumerische nicht nur zur Seite gestellt werden, sondern integraler Bestandteil sein, damit das menschliche Element nicht abhandenkommt und neue Sphären erreicht werden können.

Piene, der schon in den 60er Jahren die Idee eines Projekts einer Luft-Schule mit sich trug, eine Hochschule im Orbit, die Daten und Wissen speichert und abgibt, wird heute im Zeitalter von Cloud-Computing mit Zufriedenheit und wissendem Lächeln auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte blicken. Früh, sehr früh wurde am Center for Advanced Visual Studies mit gänzlich neuen Medien gearbeitet, mit Telekommunikation, Holografie, Laser und Video. Otto Piene entwickelte es zu einem animierenden Bildungsenvironment, einem anregenden Think Tank und richtungsweisenden Laboratorium für neue Kunst, neue Medien und neue Aufgaben.

Jetzt, heute, über 50 Jahre nach „Zero“, wo die Kunst von Otto Piene, Heinz Mack, Günther Uecker und anderen nicht neu entdeckt, aber in ihrer umfassenden Bedeutung neuerlich erkannt wird, wo sich die Zero Foundation in Düsseldorf zur Dokumentation der Zeit gegründet hat und in zwei Jahren in großen Überblicksausstellungen im Guggenheim in New York, im Stedelijk Museum, im Gropius Bau historisch eingeordnet wird, jetzt wo Otto Piene im Sommer 2014 mit einer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin geehrt wird, muss umso mehr auf die fortwährende Kraft und die Lebendigkeit seiner Kunst und seiner Ideen verwiesen werden.

Künstler wie Olafur Eliasson, Carsten Nicolai, Tomas Saraceno, um nur drei zu nennen, die gerade in Frankfurt in den letzten Jahren als hochaktuelle Künstler in der Schirn, im MMK, im Portikus und im Städel gezeigt wurden, arbeiten mit und im Geiste Otto Pienes und Zeros. Otto Pienes Kunst hat nicht nur Einfluss auf andere Künstler, sondern auch auf unsere Rezeption, was Kunst ist und wo Kunst stattfinden soll und muss. Wenn wir heute mit Staunen auf die kreativen Eröffnungsspektakel bei den Olympiaden blicken, so können wir feststellen, Otto Piene hat dies im Jahr 1972 in München vorgemacht.

Die Musealisierung der Werke eines Künstlers ist immer eine zwiespältige Sache, sicherlich gerade für einen Künstler wie Piene, der so sehr aus dem musealen Kontext heraus in einen größeren, freieren, ahistorischen Kontextrahmen gedrängt hat. Piene erklärt 1964 zu der idealen kulturellen Institution, dass er ein Museum mit Schwimmbad und Übernachtungsmöglichkeiten möchte, in dem es die Möglichkeit gibt, ungehindert vor Bildern schlafen und aufzuwachen zu können. Erst dann wäre der Besucher nicht mehr getrieben. Erst dann habe er eine Ahnung, dass die Qual der Kunst ein Ende hat. Dazu sei nur angemerkt, dass sich in den letzten Jahren in Museen und Ausstellungshäusern die Möglichkeiten in Kunsträumen zu übernachten, häufen, ob gemeinsam mit Rentieren im Hamburger Bahnhof oder im Guggenheim Museum jeweils in Installationen von Carsten Höller. „Zero“, das betont Otto Piene immer wieder, ist für ihn nicht „historisch“ sondern vielmehr ein fortdauerndes Versprechen, ein Hinweis als Samen für zukünftige, „weittragende“ Entwicklungen.

Otto Pienes Werk ist im Jahr seines 85. Geburtstags so aktuell wie eh und je. Die Idee des Kollektiven, des gemeinsamen Erschaffens von Werken durch das Zusammenwirken, ja den Zusammenklang von Kunst, Technik und Wissenschaft ist genauso relevant für die heutige Kunstpraxis, wie die Idee des gemeinschaftlichen Erlebens von Kunst als Ereignis. Das Gleiche gilt für die multidisziplinäre Lehre als auch die ökologische Dimension der Kunst.

Otto Pienes Werk repräsentiert einen fundamentalen Glauben an die Kunst, an ihre umfassenden Möglichkeiten und nichtexistenten Grenzen. Seine Arbeiten artikulieren ein Wissen um die Notwendigkeit der Veränderung der Welt und der aktiven Rolle, die Kunst in Verbindung mit Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik spielen kann, ja in Otto Pienes Sinn wohl auch muss.

Otto Piene ist ein großartiger Künstler, ein wichtiger Impulsgeber, ein ewig Lernender und fortwährend Lehrender, ein beispielloser Grenzüberschreiter und mutiger Wanderer auf neuen Wegen, in neuen Formen, mit neuen Materialien und innerhalb neuer Herausforderungen.

Zur Auszeichnung mit dem Max-Beckmann-Preis möchte ich Otto Piene von ganzem Herzen gratulieren. Die Verleihung des Preises ehrt den Preisträger genauso wie der Beckmann-Preis durch diesen beeindruckenden Preisträger, herausragenden Künstler und außerordentlichen Kosmopoliten gewürdigt wird.

Den renommierte Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt, der alle drei Jahre als Förderung und Anerkennung hervorragender Leistungen in den Bereichen Malerei, Grafik, Bildhauerei und Architektur verliehen wird, wurde Otto Piene am Dienstag, 12. Februar 2013 in der Frankfurter Paulskirche überreicht. Im Laufe des Jahres plant Otto Piene einen Sky Event im Städel Garten.