Buchtipp des Monats, ausgewählt von Erwin Wurm
Samuel Pepys „Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts“
Auf dem Nachtkasterl von Erwin Wurm liegt derzeit das Tagebuch von Samuel Pepys „Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts“. Was ihn an diesem Buch fasziniert und rasend interessiert, hat der Künstler auf dem Wurm Blog verraten – unser Buch des Monats!
Erwin Wurm | 03.06.2014

Buchtipp im Juni, ausgewählt von Erwin Wurm: Samuel Pepys: Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts
Auf dem Nachtkasterl
Auf meinem Nachtkasterl liegt gerade Samuel Pepys „Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts“. Samuel Pepys war ein hoher Beamter in der Marineverwaltung in London und schreibt nicht nur über seine persönlichen Befindlichkeiten, sondern schreibt zugleich sehr politisch. Er hat den großen Brand von London im Jahr 1666, den Sturz und das Wiederkommen des Königs Karl II. miterlebt. Diese Ereignisse beschreibt er aus seiner sehr persönlichen Sicht. Daneben berichtet er in seinem Tagebuch über das tägliche Leben: Man begleitet Samuel Pepys zum Porträtmaler, kann nachlesen, was gegessen und wie gekocht wurde. In dieses Leben einzutauchen ist faszinierend und man erfährt einiges über den staatlichen Ungehorsam. Das ist ein Thema, dass mich rasend interessiert und gerade für unsere Zeit wichtig und wesentlich ist.
Ganz schöner Schinken
Bis vor Kurzem hat es immer nur Exzerpte und Zusammenfassungen von den Tagebüchern gegeben. Vor ein paar Jahren ist dann eine neue Übersetzung auf Deutsch erschienen. Es ist ein ganz schöner Schinken, aber eben sehr vergnüglich. Man kann einsteigen, wann und wo man will. Ähnlich, wie bei Michel de Montaigne, den ich auch sehr schätze. Faszinierend bei Montaigne ist, dass er, indem er über sich schreibt, zugleich auch über die Welt schreibt. Und dabei die Welt versucht zu klären, allgemeingültig. Montaigne macht damit genau das, was auch ein Künstler versucht. Künstler arbeiten über sich, indem sie über die Welt arbeiten. Das ist ja das Interessante an Kunst, dass man persönliche Befindlichkeiten auf eine andere Ebene heben kann, sodass sie allgemeine Gültigkeit erhalten.
Gleich, aber doch komplett anders
Anders als Montaigne ist Pepys kein Philosoph, aber er beschreibt seine Zeit und das ist fast wie ein Genrebild, wie ein hyperrealistisches Stillleben aus dem 17. Jahrhundert. Und dieses Bild ist großartig. Man sieht, dass der Staat ganz ähnlich konstituiert ist wie heute und doch funktioniert alles komplett anders. Man muss sich zum Beispiel vorstellen, Samuel Pepys war hoher Beamter bei der Marine, der sehr reich wurde, unter anderem weil er an der Kasse saß. Dies erinnert an Korruption – das ist heute nicht anders, dass die Leute, die das Geld verwalten auch cashen. Interessant ist dann in diesem Kontext zu erfahren, wie Samuel Pepys seinen Tag verbracht hat. So ist er gemütlich drei Stunden zum Mittagessen gegangen und am Abend wieder, dazwischen wurde ein wenig gearbeitet. In diesem Arbeitsrhythmus manifestiert sich ein total verändertes Bild von der Welt. Interessant wird dies in Relation zu unserer heutigen Zeit. Und dieses Bild lässt einen erschrecken – also mich erschreckt das.
Pepys, Samuel: Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts
Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Helmut Winter
Reclam Bibliothek, 2009
Leinen mit Schutzumschlag, 480 Seiten
ISBN-13: 978-3-15-010693-8
24,90 Euro
erhältlich im Städel Museumsshop
Erwin Wurm ist einer der erfolgreichsten Gegenwartskünstler seiner Generation. Seit mehr als zwei Jahrzehnten hinterfragt er aus verschiedenen Blickwinkeln unseren traditionellen Skulpturbegriff. Noch bis zum 13. Juli 2014 ist seine Ausstellung Erwin Wurm: One Minute Sculptures im Städel Museum zu sehen und zu erleben.
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