Sassoferrato
Original im Plural
Bei den Alten Meistern denkt man an Einmaligkeit und Originalität. Der Barockmaler Sassoferrato aber schuf ein Madonnenbild nach dem anderen. Alles nur Copy & Paste? Sammlungsleiter Bastian Eclercy ermittelt.
Bastian Eclercy | 09.12.2020
In der ersten Reihe stand er nie. Kein Literat seiner Zeit hat den in Rom tätigen Maler Giovanni Battista Salvi (1609-1685), den man nach seinem bei Ancona gelegenen Geburtsort Sassoferrato nennt, mit einer Lebensbeschreibung gewürdigt. Auch die moderne Kunstgeschichte ließ ihn lange links liegen, belächelte ihn als süßlich frömmelnden Kleinmeister. So wissen wir sehr wenig über seine Biografie. Und doch steht uns Sassoferrato in seinen Werken überraschend prägnant vor Augen. Denn kaum ein anderer Maler hielt über seine gesamte Schaffenszeit so konsequent an einem signature style fest: einer wiedererkennbaren Markenästhetik von bemerkenswerter Klarheit und Radikalität.

Sassoferrato, Maria, das Kind anbetend, um 1640-60 (?), Frankfurt, Städel Museum
Dazu gehört Sassoferratos starke Fokussierung auf ein Bildthema, das ihm den Beinamen pictor virginum, der Madonnenmaler, eintrug. Das Städel Museum besitzt von seiner Hand glücklicherweise gleich zwei recht unterschiedliche Varianten dieses Genres, die bis vor kurzem beide im Depot schlummerten, nun aber nach Restaurierungen in neuem Glanz erstrahlen. So zog vor zwei Jahren zunächst das Gemälde Maria, das Kind anbetend erstmals in die Sammlungspräsentation des Städel ein. Jetzt hat es sinnfällige Gesellschaft in Gestalt des zweiten Marienbildes von Sassoferrato bekommen, das – sobald die Museen wieder öffnen können – im großen Italiener-Saal zu sehen ist; die beiden Sassoferratos sind dabei mit Guercinos Madonna mit Kind und Murillos Gutem Hirten gruppiert.

Neupräsentation im großen Italiener-Saal des Städel: Sassoferrato (mittig links und rechts) mit Guercino (ganz links) und Murillo
Die Reinigung und Retusche des Gemäldes – durchgeführt von unserer Restauratorin Lilly Becker unter Betreuung von Stephan Knobloch – hatte eine eindrucksvolle Transformation zur Folge: Unter dem gelblich-bräunlichen Schleier des alten Firnisses, der das Bild entstellt und ihm sogar eine Klassifizierung als Kopie (?) eingebracht hatte, kamen das porzellanhaft feine Inkarnat, der subtil aufleuchtende Heiligenschein und der für den Maler charakteristische Dreiklang von Königsblau, Beerenrot und Cremeweiß zum Vorschein.

Sassoferrato, Maria Immaculata, um 1640-60 (?), Frankfurt, Städel Museum (vor und nach der Restaurierung)
Gefasst in einen „neuen“, das heißt alten italienischen Rahmen des 17. Jahrhunderts kann das Gemälde nun an dem Ort strahlen, wo es schon einmal hing: 1866 für das Städel erworben, ist es erstmals 1878 in den Italiener-Sälen des gerade eröffneten Neubaus am Schaumainkai bezeugt – übrigens als Pendant zu Mantegna, wie diese Zeitreise anschaulich macht. Nach vielen Jahrzehnten im Depot durfte Sassoferratos Maria mit dem sehnsuchtsvollen Blick gen Himmel in wiedergewonnener Farbenpracht endlich in die Galerie zurückkehren.

Sassoferrato, Maria Immaculata, um 1640-60 (?), Frankfurt, Städel Museum (nach der Restaurierung)
„Original“?
Unsere landläufige Vorstellung von künstlerischer Produktion bei den Alten Meistern impliziert Einmaligkeit und Originalität. Dass sich dies in der frühneuzeitlichen Malerei durchaus nicht immer so verhielt, dafür gibt unser Sassoferrato geradezu ein Lehrbeispiel ab. Und zwar dann, wenn man sich auf die ebenso komplexe wie spannende Suche nach Werken begibt, die mit dem Städel Bild in Beziehung stehen. Ein Puzzlespiel beginnt: Zunächst einmal stellt man fest, dass von dieser Komposition diverse Fassungen existieren. Hier habe ich die mir bislang bekannt gewordenen Beispiele aus Museen in Karlsruhe, Bergamo und Baltimore sowie zwei Auktionshäusern zusammengestellt:

Fünf Fassungen der Maria Immaculata in Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle (1); Privatsammlung (ex Sotheby’s; 2); Baltimore, The Walters Museum of Art (3); Bergamo, Accademia Carrara (4); Privatsammlung (ex Dorotheum; 5)
All diese Varianten weisen nur geringfügige motivische Abweichungen auf. In der Ausführungsqualität sind durchaus Unterschiede zu verzeichnen, die allerdings erst einer genaueren Inaugenscheinnahme der Originale bedürften. Überraschend ist das nicht: Von den meisten Kompositionen Sassoferratos haben sich mehrere, manchmal Dutzende Fassungen erhalten. Einige davon sind leicht als Kopien von anderer Hand zu erkennen. Doch viele lassen durch ihre gleichbleibend hohe malerische Qualität darauf schließen, dass Sassoferrato selbst seine erfolgreichen Bilder mehrfach gemalt hat. Jede Suche nach einem ersten „Original“ wäre dabei sinnlos. Die Replik stellt hier gerade keine minderwertige Vervielfältigung dar, sondern sein künstlerisches Prinzip.
Wer hat’s erfunden? Copy & Paste (I)
Angesichts dieser zahlreichen Versionen mag man Sassoferratos „Copyright“ für die offenkundig bei Sammlern beliebte Bilderfindung als selbstverständlich voraussetzen. Aber auch das ist ein Trugschluss, wie ein Kupferstich von François de Poilly belegt – eine Reproduktionsgrafik nach einem Gemälde, die wie üblich in einer Inschrift den Maler der Vorlage ausweist: „Guid[o]. Ren[i]. Bon[oniensis]. Pin[xit].“ Nicht Sassoferrato also, sondern Guido Reni, der ungleich berühmtere Malerstar aus Bologna, steckt dahinter. Auf den zweiten Blick wird man dann auch verschiedener kleiner Abweichungen gegenüber Sassoferratos Komposition gewahr; so ist etwa der Blick gen Himmel mittig und nicht nach links ausgerichtet, der Kopfschleier von geringerem Volumen, der Mantel nicht waagerecht über beide Arme gelegt etc.

François de Poilly (nach Guido Reni), Maria Immaculata, Kupferstich, New York, Metropolitan Museum of Art; Sassoferrato, Maria Immaculata, um 1640-60 (?), Frankfurt, Städel Museum
Die Reni-Forschung hat das im Stich bezeugte Werk versuchsweise mit einem Gemälde im Kunsthandel identifiziert, dessen Status (eigenhändig oder Kopie?) unklar bleibt. Deutlich wird aber in jedem Falle, dass Sassoferrato hier eine Bilderfindung Guido Renis übernommen und modifiziert hat.

Guido Reni (zugeschr.), Maria Immaculata, Privatsammlung
Copy & Paste (II)
Doch auch Renis besagte Invention lässt sich noch einen Schritt weiter zurückverfolgen, und zwar in seinem eigenen Œuvre. Sie basiert nämlich auf einem großformatigen Altarbild der Immaculata Conceptio (Unbefleckte Empfängnis), das heute im Metropolitan Museum in New York aufbewahrt wird. Für sein kleines Marienbild hat Reni demnach die obere Hälfte der Hauptfigur aus dem Altarbild isoliert und dabei einige Details der Draperie verändert.

Guido Reni, Immaculata Conceptio, um 1627, New York, Metropolitan Museum of Art
Copy & Paste (III)
Sassoferrato wiederum – wir kommen zum vorletzten Puzzlestück – kannte auch diese Komposition Renis und variierte sie mit stärkeren Abweichungen in einer ebenfalls ganzfigurigen Immaculata Conceptio, geschaffen in den 1630er Jahren für San Pietro in Perugia und nun im Louvre. Das Ende unserer tour de force durch die Marienbilder markiert schließlich eine in zwei Fassungen (Turin und Boston) überlieferte Mischform, bei der Sassoferrato eine halbfigurige Maria „Frankfurter Art“ mit Engelsköpfen in Gewölk aus der ganzfigurigen Version kombiniert hat.

Sassoferrato, Immaculata Conceptio, um 1630-40, Paris, Louvre; Sassoferrato, Maria Immaculata, um 1640-60, Boston College, McMullen Museum of Art
Das fertige Puzzle
Aus diesem wahrlich komplizierten Puzzle, das wir Stück für Stück komplettiert haben, ergeben sich drei interessante Schlussfolgerungen:
Erstens: Aufgrund der Zusammenhänge mit den anderen Versionen können wir nun präziser bestimmen, was im Städel Bild eigentlich dargestellt ist. Die Halbfigur mit den zum Gebet gefalteten Händen und dem Blick zum Himmel, jedoch ohne Kind, ist eine verkürzte Version einer Maria Immaculata, also einer Maria der Unbefleckten Empfängnis, die in der theologischen Diskussion wie in der Malerei oft mit der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verschränkt wurde.
Zweitens: Wir haben herausgefunden, dass Sassoferratos Gemälde eine Bilderfindung des schon zu Lebzeiten legendären Guido Reni zugrunde liegt, die der Maler aber motivisch wie stilistisch verändert hat.
Drittens: Wir verstehen nun einen wesentlichen Aspekt der Arbeitsweise Sassoferratos, der nach dem Prinzip des „Copy & Paste“ auf Kompositionen von Vorbildern zurückgriff, diese modifizierte, Teile daraus isolierte oder in neuen Kontexten wieder zusammensetzte.
Vor allem aber lehrt uns das Beispiel, wie die Kunstgeschichte als Wissenschaft bisweilen mit kriminalistischen Methoden einzelne Beweisstücke identifiziert, ihrer Beziehung auf den Grund geht und dabei Zug um Zug die Puzzleteile zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammensetzt. Fall Sassoferrato vorerst abgeschlossen. Bis zum nächsten Beweisstück…
Der Autor Dr. Bastian Eclercy ist Sammlungsleiter für die italienische, französische und spanische Malerei vor 1800 am Städel Museum und Sassoferrato-Fan.
Der italienische Rahmen des 17. Jahrhunderts ist eine großzügige Schenkung. Ermöglicht wurde dessen Restaurierung durch die Unterstützung der Mitglieder des Städelschen Museums-Vereins.
Kommentare (5)
Bei Neumeister in München wurde letztes Jahr eine Sassoferrato-Madonna für knapp 60.000 € (inkl. Aufgeld) versteigert:
Giovanni Battista Salvi
(Il Sassoferrato)
1609 Sassoferrato – 1685 Rom
Betende Madonna
Öl auf Lwd. 48,9 x 38,5 cm.
Giovanni Battista Salvi, gen. Il Sassoferrato, wurde zu seinen Lebzeiten für seine Madonnengemälde in strahlenden, stark buntfarbenen Tönen mit schmelzendem Inkarnat auf das Äußerste geschätzt. Die brillante Malweise und der emailhafte Glanz des Kolorits seiner Werke entsprach in kongenialer Weise dem Geschmack und den Wünschen der Sammler. Mit seinen Madonnengemälden gelang es Sassoferrato, den unermesslichen Bilderbedarf der italienischen Gegenreformation zu befriedigen. Bewusst orientierte sich Sassoferrato am Schaffen berühmter Vorgänger, in seinem Werk finden sich deutliche Reminiszenzen an Perugino und Raphael. Aber auch stilistische Merkmale von Zeitgenossen wie Domenichino und Guido Reni finden sich in seinen Arbeiten wieder. In der jüngeren Vergangenheit begann man in der Folge der Neubewertung der Präraffaeliten, auch das Schaffen des „Pittore delle belle Madonne“ wissenschaftlich neu einzuordnen und wertzuschätzen. Das vorliegende Gemälde ist eine Fassung einer der bekanntesten Bildschöpfungen des Künstlers. Kompositionell und hinsichtlich der Maße äußerst vergleichbar sind zwei Gemälde im Musée des Beaux-Arts in Bordeaux (Inv.-Nr. E 950, Nr. 7189) und im Rijksmuseum zu Amsterdam (Inv.-Nr. C 1370). Vgl. Macé de Lépinay, François (Hg.), Giovanni Battista Salvi – „Il Sassoferrato“. Ausst.-Kat. Sassoferrato, 29. Juni – 14. Oktober 1990. Mailand u. a. 1990, S. 53, Kat.-Nr. 6 (mit Abb.): das Gemälde im Musée des Beaux-Arts, Bordeaux.
Provenienz: Privatsammlung. – Moretti Fine Art, London – New York – Florenz (2014). – Privatsammlung Deutschland.
Liebe Grüße an Philipp Demandt
Bernd Degner
Lieber Herr Eclercy,
Danke für diesen Beitrag!
Das ist ja schon toll, was unter dem vergilbten Firnis noch herauskommt.
Lange habe ich mir nun den Beitrag angesehen. Gelitten hat aber doch der Schatten im blauen Mantel. Stets habe ich Angst, die Restauratoren nehmen zuviel weg.
Bei der Frage der Kopie bin ich stets sehr skeptisch, wenn die Replik dem „Original“ zu sehr entspricht. Vor allem die markante Schulterfalte tritt immer wieder auf. Und wer die so brav nachmacht, outet sich grad als echter Kopist. Wenn ein Künstler selber eine Kopie anfertigt, so ist er eigentlich viel freier, als der steife Kopist. Die Karlsruer Variante glaube ich deshalb auch nicht. Eher noch die Variante 2, müßte man im Original anschauen. Auch Baltimore 3 ist einfach zu gut, zu gleich, um glaubhaft zu sein. Bergamo 4 ist etwas kürzer im Gesicht und durchaus spannend. Variante 5 wirkt aber viel zu neu und ist vermutlich gar nicht arg alt. Interessant wäre nun zu untersuchen, wo und wann diese Kopisten das Original gesehen haben können. Der Poilly Stich zu Reni ist Klasse! Das vermeintliche Original dazu gleich aber wieder suspekt. Eine Blindheit im ( von uns) linken Auge passt gar nicht. Oder ist es das Andere? Jedenfalls ist da was stümperhaftes im Blick. Genauso wie Reni ist aber auch Raffael eine Quelle, die der Maler wohl gekannt hat, sowieso .
Das tolle Met-Bild zu Reni ist auch schon wieder fast zuuuu gut. Klasse Arbeit! Raffael drin, klar.. Aber Vorsicht! Das Blau sitzt mir viel zu scharff vor dem Gelbkontrast! Eher gefällt mir da das Louvre-Bild, obwohl die Englein hier schon viel zu laut werden. Wegen grad den Englein würde ich das Boston – Bild direkt verwerfen. Weg damit! Schon krass, was die Amis sich da unterschieben lassen. Niemals wird der geschulte Maler einen braunhaarigen so in die Ecke knallen, daß sein Tonwert den Blick anzieht, weg von der Mitte. Auch die anderen Engel sind eher fake-news. Man suche da eher bei den Kids des Aufteraggebers…
Fazit 1 2 3 schnurrt dann zusammen, zum Glückwunsch zu dem Frankfurter Bild.
So stark auch das freie Met und das Pariser sind, an sich, ist doch das Frankfurter irgendwie authentisch. Gratulation!
Sven Schalenberg, Maler.
Fantastisch. Hat mir diesen Zweig der Malerei sehr nahe gebracht. Spannend zu lesen, null Langeweile. Super restauriert. Ich fühlte mich geehrt.
Was genau ist die Frankfurter darstellweise?
Mit der im Abschnitt „Copy & Paste III“ erwähnten „Frankfurter Art“ ist einfach die Komposition des Städel-Bildes gemeint. Liebe Grüße!
PIETRO DA CORTONA 1596- 1669
Die Ehebrecherin
Das Gemälde von Pietro da Cortona die Ehebrecherin befindet sich im Privatbesitz unserer Familie. Durch die Restaurierung des Gemäldes wurde festgestellt, dass es sich um das Originalgemälde handelt. Dieses Kunstwerk ist, wie Ihrem Bericht zufolge, ebenso eine Kopie vom großen Bild, welches aus dem Gesamtkunstwerk Christus und die Ehebrecherin von Pietro da Cortona und wurde vom Künstler selbst erschaffen. Nach meinen Recherchen hängt das gleiche Bild auch in der Staatsgalerie im Schloss Schleißheim. Sollten Sie Interesse für eine Leihgabe haben, können Sie mich gerne kontaktieren.