Tradition der Reisefotografie
Sehnsuchtsbilder
Wer aus dem Urlaub etliche Schnappschüsse oder sorgfältig inszenierte Fotos mitbringt, reiht sich in eine lange Tradition ein. Die Gepflogenheit, Fotografien an Orten, an denen man die sprichwörtlich schönste Zeit des Jahres verbringt, aufzunehmen, ist dabei allerdings schon beinahe so alt wie die Fotografie selbst.
Silke Janßen | 18.09.2014
Reisefotografie im 19. Jahrhundert
Einige Beispiele für diese allerersten Sehnsuchtsbilder von fernen Reisezielen erhaltet Ihr in unserer aktuellen Präsentation „Lichtbilder. Fotografie im Städel Museum von den Anfängen bis 1960“. In einem der neun Ausstellungsbereiche wird das Thema eigens vorgestellt: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts reisten nicht nur Maler oder Bildhauer, sondern auch immer mehr Touristen aus bürgerlichen Kreisen nach Italien. Im Gegensatz zu den heutigen Erinnerungsbildern, die in Sekundenschnelle entstehen und mit dem Smartphone umgehend geteilt werden können, wurde die damalige Bildersehnsucht durch die Aufnahmen professionaler Fotografen gestillt, die an den „places to be“ Fotoateliers eröffneten. Das Geschäft muss sich offensichtlich gelohnt haben: Zu einer Zeit, in der Fotografien nur mit hohem zeitlichen Aufwand, einer teuren sowie äußerst unhandlichen Apparatur und grundlegendem Wissen über die chemische Entwicklung von Abzügen entstehen konnten, griffen zahlreiche Reisenden auf die Fotografien der gewerblichen Anbieter zurück, die diese in ihren Studios anboten.
Glockenturm im Kleinformat
Ein Motiv, das sich in rund 170 Jahren auf Abbildungen kaum verändert zu haben scheint, ist der Schiefe Turm von Pisa – das wohl berühmteste geneigte Gebäude weltweit. Der 1372 vollendete Bau, der ursprünglich als freistehender Glockenturm für den Dom in Pisa geplant war, begeisterte bereits im 19. Jahrhundert die Besucher der Stadt ebenso wie die Fotografen. Die in der Ausstellung zu sehende Aufnahme des Schiefen Turms von Enrico van Lint (1808–1884) entstand circa 1855. Das damals bereits kursierende Bildmotiv mit der immer gleichen Ansicht hat die Sehgewohnheiten von Touristen bis heute beeinflusst; eine kurze Bildersuche auf Google bestätigt dies umgehend. Van Lint präsentiert den Glockenturm im Kleinformat – die Maße erinnern an die Größe heutiger Postkarten. Und auch der Zweck war ähnlich: Direkt vor Ort in den Fotografenateliers wurden die Bilder an die Touristen verkauft, die den Zuhausegebliebenen einen Eindruck von der Ferne mitbrachten. In Bestellalben konnten die Touristen unter zahlreichen Aufnahmen einzelne Bilder aussuchen, von denen sie Abzüge als Andenken mit nach Hause nahmen, um sie in Reisealben einzukleben.
Ein Frankfurter in Neapel
Auch anderorts entstanden Fotografenateliers. Ausgerechnet ein verarmter Frankfurter, Georg Sommer (1834–1914), wurde in dieser Zeit zu einem der erfolgreichsten Fotografen Neapels. Der in der Stadt am Main ausgebildete Kaufmann widmete sich nach dem Bankrott des väterlichen Betriebs vollständig dem neuen Medium, emigrierte nach Italien und erlangte dort mit seinen pittoresken Darstellungen große Berühmtheit unter seinem italianisierten Namen Giorgio Sommer. Bei dieser Ansicht eines Hauses in Pompeji, aufgenommen um 1865, lässt der grazile Putto über einer Brunnenschale den Reichtum einer auch damals schon längst vergangenen Kultur erahnen.

Giorgio Sommer (1834–1914); Pompeji; Brunnen in der Casa del gran balcone; ca.1865; erworben 2011 von Uta und Wilfried Wiegand; Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.
Das Glück des Alltags
Aufnahmen vom Leben der italienischen Landbevölkerung waren bei den Touristen ebenfalls sehr gefragt. Die oftmals komplett gestellten Genreszenen waren ein beliebtes Souvenir, galten sie doch als Zeugen einer vorindustriellen und somit vermeintlich unbeschwerten Lebenswelt von armen, aber unbekümmerten Menschen. Diese in Neapel entstandene Fotografie Giorgio Sommers, die eine ältere Frau beim Entlausen zweier vor ihr auf dem Fußboden sitzenden Jungen zeigt, entstand um 1870. Die inszenierte Aufnahme sollte den Reisenden einen Eindruck vom noch ursprünglichen Alltag der Neapolitaner vermitteln.
Atmosphärische Wirkung
Die Wahrnehmung Italiens als Sehnsuchtsort zeigte sich zudem in zahlreichen Landschaftsfotografien. Die Aufnahmen von verlassenen Booten oder einsamen Hütten an der Küste stellen suggestive Stimmungsbilder dar. Durch die sorgfältige Behandlung der Abzüge wurde die atmosphärische Wirkung noch verstärkt: Dank der feinen Helldunkelabstufungen erhalten die Fotografien fast schon eine malerische Tendenz.
Die Autorin Silke Janßen ist in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Städel tätig. Tatsächlich galt ihr letzter Post auf Facebook dem kürzlich verbrachten Urlaub, natürlich fotografisch festgehalten.
In diesen und weiteren Sehnsuchtsbildern könnt Ihr in der Lichtbilder-Ausstellung noch bis Sonntag, 5. Oktober 2014 im Städel Museum schwelgen.
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