Skulptur des Monats
„Fallender Titan“ von Thomas Banks
Mit dem Stil des Klassizismus assoziiert man häufig Begriffe wie maßvoll, verhalten, schön. Aber: Die in der Ausstellung „Schönheit und Revolution“ präsentierte Skulptur „Fallender Titan“ zeigt einen verdrehten, fließenden Männerkörper, der kopfüber in die Tiefe stürzt. Gefangen in diesem dramatischen Moment vermag sich die Spannung in der Skulptur von Thomas Banks aus dem Jahr 1786 nie auf zu lösen. Auch das ist Klassizismus.
Paula Schwerdtfeger | 21.03.2013

Skulptur des Monats: Thomas Banks (1735–1805); Fallender Titan, 1786; Marmor, 84,5 x 90,2 x 58,4 cm; Royal Academy of Arts, London; Foto: © Royal Academy of Arts, London
Der muskulöse Körper fällt mit den Felsbrocken auf ein Massiv, das den Fall aber nicht abzufangen vermag. Dabei überschlägt der Titan sich fast. Die Beuge des Rumpfes lässt das Gesäß, den schwersten Punkt des Körpers, im freien Raum stehen. Der Kopf, von den Gesteinen abgewandt, reicht über die Basis der Skulptur, die Plinthe, hinaus nach unten. Sein Arm hingegen liegt sanft auf dem Felsen. Gewunden in fast fließenden Formen aus der einen Ansicht, gestreckt und eckig aus der anderen bietet die Skulptur verschiedenste Betrachtungsmöglichkeiten. In der Seitenansicht wird die Dramatik besonders deutlich: Nichts wird diesen Körper aufhalten. Und doch, gemeißelt in Marmor ist der Titan in Ewigkeit in diesem Moment gefangen.

Detail des Werks in der Ausstellung „Schönheit und Revolution“: Thomas Banks (1735–1805); Fallender Titan, 1786; Marmor, 84,5 x 90,2 x 58,4 cm; Royal Academy of Arts, London
Der Kampf der Titanen
In der Skulptur ganz unten am Felsen verdeutlichen winzige Figuren im Relief die riesige Größe des Titans. Die Ziegen, die zum Dämonen Satyr gehören, sind gerade mal so groß wie die Daumen des fallenden Titans. Banks Skulptur zeigt eine Szene aus dem Kampf um den Göttersitz Olymp. Die Titanen als Kinder des ersten Götterpaares Gaia und Uranos versuchen den Platz des obersten Gott Zeus, sozusagen ihres Neffen, und seiner Geschwister einzunehmen. In einer brutalen Schlacht verteidigen die zwölf olympischen Götter und Göttinnen jedoch ihren Thron mit Hilfe der Zyklopen. Diese bewerfen die Titanen mit Felsbrocken, auch Baumstumpfe, Brandbomben, ja sogar ganze Gebirgszüge und Flüsse werden im Kampf eingesetzt.
Ursprünglich stammt die von dem englischen Bildhauer Thomas Banks (1735–1805) in der Skulptur festgehaltene Szene aus der Theogonie des Hesiod, die um 700 v. Chr. entstanden ist und zu den ältesten Texten der griechischen Mythologie gehört. Entsprechend viele verschiedene Übersetzungen sind bekannt, in denen die Entstehung der Welt und die Ordnung des Götterhimmels geschildert werden. Das Thema der dramatischen Skulptur ist also, ganz im Sinne des Klassizismus, der antiken Welt entlehnt.
Erweitern der klassischen Form
Der in der Skulptur dargestellte extreme Moment des Fallens und der bis aufs Äußerste gestreckte und gedrehte Körper widersprechen dabei der Forderung des Kunsthistorikers und -theoretikers Johann Joachim Winkelmann (1717–1808) nach der Beherrschung des seelischen Zustandes und der ausgeglichenen Formengestaltung. Der Kreis um die Künstler Johann Tobias Sergel und Johann Heinrich Füssli in Rom, zu dem Banks 1772 hinzustieß, widmete sich ganz im Gegenteil explizit der Darstellung des Zustandes des „Außersichseins“. Um die klassisch-antike Figur zu erweitern, entwarfen Füssli und Banks sogar ein Spiel: Zwischen fünf willkürlichen Punkten musste ein Körper – extrem, aber realistisch – gespannt werden. Jeder Punkt war dabei einer Hand, einem Fuß oder dem Kopf zugedacht. Ziel war dabei aber nicht, die Grundidee zu verwerfen. Die Gestaltung richtete sich ausnahmslos auf den angemessenen Pathos, sozusagen den Ausdruck der Leidenschaften, der Helden und Charaktere.

Blick in die Ausstellung „Schönheit und Revolution“: Thomas Banks (1735–1805); Fallender Titan, 1786; Marmor, 84,5 x 90,2 x 58,4 cm; Royal Academy of Arts, London; Foto: Norbert Miguletz
Wenn Banks nun also den Stürzenden in dem Moment ohne Halt dar stellt, so sprengt er trotz der außergewöhnlichen Formgebung nicht den Rahmen des Antikenbezugs im Klassizismus. Die Parallele der Beine und des linken Arms erzeugen Ruhe, auch wenn ihre Anordnung ebenso das Fallen betont. Die Sanftheit aber, mit der die linke Hand auf dem Felsen ruht und die Theatralik, der zur Faust geballten rechten Hand folgen den Regeln der Beherrschung. Besonders deutlich wird dies im Gesichtsausdruck des Titans. Ähnlich wie bei Winkelmanns historischer Analyse der antiken Plastik der Laokoon-Gruppe ist das Gesicht zwar bewegt, aber nicht vor Schmerz verzerrt. So ist auch der Körper gespannt, aber nicht verkrampft. Der Titan fügt sich, ganz im Sinne der Tragödie, seinem Schicksal: er wird in den Tiefen des Tartarus, dem Strafort der Unterwelt, sein Zeitliches segnen.
Thomas Banks in England
Als Stipendiat der Royal Academy of Arts nach Rom gegangen, reichte Banks den „Fallenden Titan“ 1786 zur Aufnahme als Vollakademiker ein. Sein einmaliger Stil kann in der Ausstellung „Schönheit und Revolution“ auch in dem Relief „Thetis und ihre Nymphen erheben sich aus dem Meer, um Achill zu trösten“ bewundert werden, dessen Thema aus Homers 18. Gesang der „Illias“ stammt. Durch die innovative Gestaltung und den Bezug auf antike Themen konnte Banks zu einem der wichtigsten Bildhauer Englands aufsteigen.
Die Autorin Paula Schwerdtfeger steckt gerade in den letzten Zügen ihrer Magisterarbeit und hofft, damit nicht wie der Titan im Tartarus, sondern im Olymp zu landen.
Kommentare (4)
Sehr informativ! Ich habe Wichtiges gelernt!
Viel Erfolg für Frau Schwerdtfeger!
Lieber Edgar Treber,
herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Es freut uns sehr, wenn die Lektüre auf unserem Blog sowohl informativ als auch interessant ist. Vielen Dank also für das Lob.
Mit besten Grüßen aus dem Städel Museum
Silke Janßen
Ein hoch interessantes Motiv! Und wenn man nachschaut, kommt es mir vor, als würde in der Konterkarierung des klassischen Ideals (der „seelischen Beherrschung“ …) eben doch ein Bezug zur vorrevolutionären Stimmung in Europa fühlbar werden. Immerhin riefen die Götter die „Hundertarmigen“ zur Hilfe – sie bewarfen die Titanen mit Steinen (daher hier die Füße unter dem Felsen, der Körper ist doppelt hilflos, eingeklemmt und stürzend zugleich), so dass man ja aus dem hier implizierten Mythos heraus schon fast das aufgebrachte Volk vor Augen sieht, dass auf die alte Machthaber losgeht. Ich finde, das ist gedanklich ein kurzer Weg, und man hat fast den Eindruk, als würde die Kunst – ohne jeden politischen Begriff – doch schon etwas vorweg fühlen oder träumen.
Das Bild des Stürzens ist im übrigen in der Sprache ja schon ewig die Metapher schlechthin für Revolutionen (noch heute spricht man von „Umsturz“ und „stürzenden Regierungen“/“Stürzenden Ministern“).
Ich weiß nicht, ob der Sturz der Titanen ein häufiges Motiv in der Kunst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts war, aber spontan fiel mir „Hyperions Schicksalslied“ des Klassizisten Hölderlin ein, das ungefähr zur gleichen Zeit geschrieben wurde („Ihr wandelt droben im Licht / Auf weichem Boden, selige Genien! … Es schwinden, es fallen die Menschen … jahrlang ins Ungewisse hinab“). Das Fallen aus der Höhe ist eben genau die „Körperbewegung“, in der wir nichts mehr beherrschen und der Körper vom Subjekt zum dinghaften Objekt wird – hier wird auch der mächtige Titan zu einem bloßen Ding, der nicht anders herabfällt wie ein Gegenstand, also wie die Felsen, die mit ihm herabstürzen. Das ist ein indiskreter Moment, bei dem man nicht hinschauen sollte, keine Schaulust haben darf. Dazu gibt es eine Skulptur von Fischli „Fallende Frau“, die nach 7 Tagen wieder entfernt werden musste – Trauma und Schock waren zu groß: http://www.spiegel.de/panorama/terrorerinnerungen-fallende-frau-schockiert-new-yorker-a-214628.html
Eine letzte Assoziation – so sieht es heute aus, wenn Titanen stürzen: http://im.rediff.com/news/2011/oct/20libya1.jpg
Wie auch immer, so harmlos ist diese klassiszistische Skultur nicht, scheint mir.
Lieber Herr Iversen,
uneingeschränkt ist zuzustimmen: Harmlos ist diese Skulptur nicht! Es lohnt sich, sie immer wieder zu umkreisen, zu betrachten und neu zu befragen, wie Fritz Iversen dies tut.
Nur ein ergänzender Kommentar zu seinen anregenden Gedanken mag erlaubt sein. Das Thema des Herabstürzenden ist vielleicht doch nicht gleich zu setzen mit dem Thema des Umsturzes oder gar der Revolution. Just der Sturz der Titanen ist das Ergebnis einer dynastischen Zwietracht – ein Götterkampf zwischen den untereinander verwandten Olympiern und den Titanen um die Vormacht. Die Grundidee der Revolution wohnt dem Thema des Titanensturzes an sich nicht inne, wenngleich natürlich die Machtverhältnisse nach dem Kampf andere sind als zuvor. Als der englische Bildhauer Thomas Banks 1786 den „Fallenden Titan“ als Aufnahmestück für die Londoner Royal Academy erarbeitete, waren die französischen Revolutionsbewegungen wenig spürbar gewesen sein – später wurde er allerdings tatsächlich deren Anhänger. Das Motiv des Sturzes (Gestürzt-werdens) ist übrigens auch in der Bibel mehrfach thematisiert, ob im Höllensturz der Verdammten oder im Engelssturz.
Viele Grüße,
Dr. Eva Mongi-Vollmer (Kuratorin der Ausstellung „Schönheit und Revolution. Klassizismus 1770-1820“)