Skulptur des Monats: Thomas Banks (1735–1805); Fallender Titan, 1786; Marmor, 84,5 x 90,2 x 58,4 cm; Royal Academy of Arts, London; Foto: © Royal Academy of Arts, London

Der muskulöse Körper fällt mit den Felsbrocken auf ein Massiv, das den Fall aber nicht abzufangen vermag. Dabei überschlägt der Titan sich fast. Die Beuge des Rumpfes lässt das Gesäß, den schwersten Punkt des Körpers, im freien Raum stehen. Der Kopf, von den Gesteinen abgewandt, reicht über die Basis der Skulptur, die Plinthe, hinaus nach unten. Sein Arm hingegen liegt sanft auf dem Felsen. Gewunden in fast fließenden Formen aus der einen Ansicht, gestreckt und eckig aus der anderen bietet die Skulptur verschiedenste Betrachtungsmöglichkeiten. In der Seitenansicht wird die Dramatik besonders deutlich: Nichts wird diesen Körper aufhalten. Und doch, gemeißelt in Marmor ist der Titan in Ewigkeit in diesem Moment gefangen.

Detail des Werks in der Ausstellung „Schönheit und Revolution“: Thomas Banks (1735–1805); Fallender Titan, 1786; Marmor, 84,5 x 90,2 x 58,4 cm; Royal Academy of Arts, London

Der Kampf der Titanen

In der Skulptur ganz unten am Felsen verdeutlichen winzige Figuren im Relief die riesige Größe des Titans. Die Ziegen, die zum Dämonen Satyr gehören, sind gerade mal so groß wie die Daumen des fallenden Titans. Banks Skulptur zeigt eine Szene aus dem Kampf um den Göttersitz Olymp. Die Titanen als Kinder des ersten Götterpaares Gaia und Uranos versuchen den Platz des obersten Gott Zeus, sozusagen ihres Neffen, und seiner Geschwister einzunehmen. In einer brutalen Schlacht verteidigen die zwölf olympischen Götter und Göttinnen jedoch ihren Thron mit Hilfe der Zyklopen. Diese bewerfen die Titanen mit Felsbrocken, auch Baumstumpfe, Brandbomben, ja sogar ganze Gebirgszüge und Flüsse werden im Kampf eingesetzt.

Ursprünglich stammt die von dem englischen Bildhauer Thomas Banks (1735–1805) in der Skulptur festgehaltene Szene aus der Theogonie des Hesiod, die um 700 v. Chr. entstanden ist und zu den ältesten Texten der griechischen Mythologie gehört. Entsprechend viele verschiedene Übersetzungen sind bekannt, in denen die Entstehung der Welt und die Ordnung des Götterhimmels geschildert werden. Das Thema der dramatischen Skulptur ist also, ganz im Sinne des Klassizismus, der antiken Welt entlehnt.

Erweitern der klassischen Form

Der in der Skulptur dargestellte extreme Moment des Fallens und der bis aufs Äußerste gestreckte und gedrehte Körper widersprechen dabei der Forderung des Kunsthistorikers und  -theoretikers Johann Joachim Winkelmann (1717–1808) nach der Beherrschung des seelischen Zustandes und der ausgeglichenen Formengestaltung. Der Kreis um die Künstler Johann Tobias Sergel und Johann Heinrich Füssli in Rom, zu dem Banks 1772 hinzustieß, widmete sich ganz im Gegenteil explizit der Darstellung des Zustandes des „Außersichseins“. Um die klassisch-antike Figur zu erweitern, entwarfen Füssli und Banks sogar ein Spiel: Zwischen fünf willkürlichen Punkten musste ein Körper – extrem, aber realistisch – gespannt werden. Jeder Punkt war dabei einer Hand, einem Fuß oder dem Kopf zugedacht. Ziel war dabei aber nicht, die Grundidee zu verwerfen. Die Gestaltung richtete sich ausnahmslos auf den angemessenen Pathos, sozusagen den Ausdruck der Leidenschaften, der Helden und Charaktere.

Blick in die Ausstellung „Schönheit und Revolution“: Thomas Banks (1735–1805); Fallender Titan, 1786; Marmor, 84,5 x 90,2 x 58,4 cm; Royal Academy of Arts, London; Foto: Norbert Miguletz

Wenn Banks nun also den Stürzenden in dem Moment ohne Halt dar stellt, so sprengt er trotz der außergewöhnlichen Formgebung nicht den Rahmen des Antikenbezugs im Klassizismus. Die Parallele der Beine und des linken Arms erzeugen Ruhe, auch wenn ihre Anordnung ebenso das Fallen betont. Die Sanftheit aber, mit der die linke Hand auf dem Felsen ruht und die Theatralik, der zur Faust geballten rechten Hand folgen den Regeln der Beherrschung. Besonders deutlich wird dies im Gesichtsausdruck des Titans. Ähnlich wie bei Winkelmanns historischer Analyse der antiken Plastik der Laokoon-Gruppe ist das Gesicht zwar bewegt, aber nicht vor Schmerz verzerrt. So ist auch der Körper gespannt, aber nicht verkrampft. Der Titan fügt sich, ganz im Sinne der Tragödie, seinem Schicksal: er wird in den Tiefen des Tartarus, dem Strafort der Unterwelt, sein Zeitliches segnen.

Thomas Banks in England

Als Stipendiat der Royal Academy of Arts nach Rom gegangen, reichte Banks den „Fallenden Titan“ 1786 zur Aufnahme als Vollakademiker ein. Sein einmaliger Stil kann in der Ausstellung „Schönheit und Revolution“ auch in dem Relief „Thetis und ihre Nymphen erheben sich aus dem Meer, um Achill zu trösten“ bewundert werden, dessen Thema aus Homers 18. Gesang der „Illias“ stammt. Durch die innovative Gestaltung und den Bezug auf antike Themen konnte Banks zu einem der wichtigsten Bildhauer Englands aufsteigen.