Zu Erwin Wurms Videoarbeiten
Stellungswechsel am Flipperautomaten
Stephan Berg, Intendant des Kunstmuseums Bonn seit 2008, richtete dort nicht nur 2010 eine Ausstellung zum Werk Erwin Wurms aus, er schrieb schon 1994 einen Aufsatz über die Videoarbeiten des österreichischen Künstlers. Diesen Text findet Ihr auf dem Wurm Blog nun in gekürzter Fassung.
Stephan Berg | 06.06.2014

Der Intendant des Kunstmuseums Bonn Stephan Berg wird zur einminütigen Skulptur während der Eröffnung der Städel-Ausstellung „Erwin Wurm: One Minute Sculptures“.
Stephan Berg
Stellungswechsel am Flipperautomaten. Zu Erwin Wurms Videoarbeiten
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Der reduktionistische und minimalistische Ansatz, der in Erwin Wurms Pullover-und Staubarbeiten erkennbar wird, zielt im Kern auf eine Ebene, auf der die künstlerische Handlung nur noch aus einem dem Nichts angenäherten essentiellen Grundimpuls besteht, der gleichzeitig so offen und so präzise ist, daß ihn die Betrachterphantasie prozessual weiterentwickeln kann und dabei dennoch im künstlerisch vorgegebenen Rahmen bleibt. Knapper und mit den Worten Erwin Wurms gesagt: „Ich war immer an einem kurzen Weg interessiert“.
Dieser handlungsorientierte Werkbegriff, der elementar die Partizipation des Betrachters in das Gelingen des Kunstwerks mit einbezieht, läßt sich in den seit 1988 entstehenden Videoarbeiten schon deswegen am deutlichsten nachzeichnen, weil der zeit- und entwicklungsorientierte Ansatz seines Werks im Medium selbst als formale Grundstruktur bereits enthalten ist. „Still“ aus dem Jahre 1990 zeigt in einer seiner Szenen eine Sequenz, in der ein Mann mit einer Blechschüssel auf dem Kopf, die seine Augen verdeckt, drei Minuten lang regungslos im Raum steht. Die Defunktionalisierung der Blechschüssel entspricht dabei nicht nur der Haltung, die Erwin Wurm im Umgang mit seinen Pulloverskulpturen entwickelt hat, sondern anonymisiert den darunter verborgenen Menschen auch zur letztlich auswechselbaren Gestalt. Dieser Zusammenhang erscheint insofern wesentlich, als Wurms gesamtes Werk im Grunde denkbar wenig an der Untersuchung individuell oder gar psychologisch aufgeladener Körperthematik interessiert ist. Der Körper, der so häufig in seinen Arbeiten auftaucht, muß vielmehr in einem strukturellen Sinn gesehen werden, als konzeptuelle Bezugsgröße und gleichzeitig als elementare Basisebene allen Handelns, an der sich das Nachdenken über die Grundbedingungen plastischer Arbeit entzündet. Im Stillstehen der in diesem Sinne ebenfalls defunktionalisierten menschlichen Gestalt ist der Rekurs auf die statische Verfassung herkömmlicher Skulpturen ebenso enthalten, wie er gleichermaßen unterlaufen wird: Denn natürlich bewegt sich dieses lebende Standbild, wenn eben auch nur minimal und kaum wahrnehmbar. Die Differenz, von der oben die Rede war, ist in diesem Fall äußerst gering geworden, und verdeutlicht gerade deshalb, wie erst die Wahrnehmung einer noch so winzigen Schwankung im scheinbar bewegungslosen Kontinuum, wie also erst die Erfahrung einer Verschiebung, in der sich das Vorher und das Nachher, das Vertraute und das Fremde unterscheiden lassen, die Voraussetzung für ein Begreifen skulpturaler Grundsätze schafft.
Das Konzept einer von kleinen Variationen aufgelockerten Wiederholung des scheinbar immer Gleichen, kennzeichnet auch die Videoarbeit „Flipper“ (1991). Wir sehen einen Mann, der sechs Tage lang jeden Tag acht Stunden ununterbrochen an einem auf maximale Lautstärke gestellten Flipper im Innenhof der Akademie der bildenden Künste in Wien spielt. Zusammen mit einem Video aus dem Jahre 1992, in dem der Künstler auf drei Monitoren Metallgefäße mit verschieden großen Hämmern flach schlägt, ist die Flipperarbeit die einzige, bei der der Ton – sozusagen als auf der Variation der Wiederholung basierende perkussive Struktur – eine wichtige Rolle spielt. In diesem Fall sorgt die Überdehnung der üblichen Spielzeit und die Kontextverschiebung des Flipperautomaten für eine inhaltliche Neubewertung der Situation. Das normalerweise auf kurze Zeit begrenzte Spiel gewinnt in diesem neuen Zusammenhang nicht nur den Rang einer dauerhaften, und im Wortsinn un-mensch-lichen Tätigkeit, es wird zu einer skulptural begreifbaren Konstante, an der die ab und an auftauchenden Passanten vorübergehen, wie an einem Monument, das dort bereits seit ewigen Zeiten stand.

Erwin Wurm (*1954); 59 Stellungen, 1992; Video, 20:00 Min.; © Studio Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2014
„Fabio zieht sich an (Gesamte Garderobe)“ aus dem Jahr 1992 inszeniert seinen Verschiebungsakt vom vertrauten hin zum Fremden ebenfalls durch konsequente Übersteigerung der an sich völlig alltäglichen Handlung des sich Ankleidens. Fabios schlußendlich von Erfolg gekrönter Versuch, seine gesamte Garderobe übereinander anzuziehen, hat auf den Betrachter neben einer durchaus beabsichtigten grotesken und lächerlichen auch deutlich eine klaustrophobe Wirkung. In der langsamen Volumenszunahme Fabios manifestieren sich überdies erneut Erwin Wurms Überlegungen zu einem handlungsorientierten Skulpturbegriff, wie auch das Moment einer paradoxal erscheinenden Defunktionalisierung alltäglicher Zusammenhänge. Im Falle Fabios betrifft sie sowohl den Körper, der von seiner Kleidung nicht mehr bedeckt und geschützt, sondern nahezu erdrückt wird, wie auch die Kleider, die einerseits eine monströse Eigenmächtigkeit gewinnen, und andererseits doch immer im Rahmen ihrer eigentlichen Zweckbestimmung verwendet werden. Ähnliches gilt auch für das […] Video „59 Stellungen“, ebenfalls aus dem Jahr 1992, das sich in direkten Zusammenhang zu den Pulloverarbeiten bringen läßt. Die dort – wie auch in den flachgehämmerten Metallgefäßen – zentrale Überlegung zu dem Verhältnis von Zweidimensionalität zu Dreidimensionalität, verkörpert sich hier in 59 verschiedenen jeweils 2o Sekunden dauernden Sequenzen, in denen Pullover und andere Kleidungsstücke so angezogen werden, daß ihre Träger jeweils nicht sichtbar sind. Das Ergebnis ist auch deswegen so verblüffend, weil die Ausgangssituation für das Experiment (ein Mensch zieht ein Kleidungsstück an) so konventionell ist, daß man eigentlich nicht mit einer Überraschung rechnet. Tatsächlich aber wirken die bisweilen Arpverwandten amorphen Pullover-und Hosenwesen, die hockenden oder wie gepanzert scheinenden Torsi und klaffenden Rollkragenmäuler so fremd, als kämen sie von einem anderen Planeten. Dieser dingmagische Eindruck wird sowohl durch die völlige Stille des Szenarios unterstützt, wie auch durch die Regungslosigkeit der Figuren, die wie in „Still“ nur minimalen Bewegungsschwankungen unterworfen sind. Entscheidend ist in diesem durchaus performativen Zusammenhang auch die Positionierung der Videokamera, die – als objektivierter Betrachterblick – erst die Kontingenz des fremden Bildes und seine gelungene Verwandlung zur temporären Skulptur garantiert, die im Falle einer realen Performance durch den frei wählbaren Betrachterstandort unmöglich gemacht würde.
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Wichtig erscheint im Gesamtblick auf Erwin Wurms Werk die Thematik der Vergänglichkeit, die seine Arbeiten umgibt. Insbesondere die Staubskulpturen, aber auch einige seiner Videos, insbesondere die 1000 Porträts, sind geradezu gesättigt von einer Erfahrung des Verlusts, die fern von jeglichen teleologischen Transzendenzzusammenhängen, vor allem von der grundsätzlichen Abwesenheit des vordergründig Anwesenden kündet. Die Idee der Welt als Wille und Vorstellung erscheint hier in einer neuen skeptischen Brechung: Als gestaltender Blick, der sein eigenes Verschwinden in der Inszenierung des Entschwindenden gleich mitdenkt.
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Anlässlich der Ausstellung „Erwin Wurm“, die 1994 und 1995 im Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, im Kunstmuseum St. Gallen und im Kunstverein Freiburg gezeigt wurde, erschien ein umfangreicher Katalog mit Texten von Stephan Berg, Rainer Fuchs, Lóránd Hegyi, Jérôme Sans, Andreas Spiegl, Laura Trippi, Roland Wäspe. Dort findet Ihr die ungekürzte Fassung dieses Textes auf Seite 47 bis 51.
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