Buchtipp des Monats
Tagebuch einer Beobachtung: „Mann mit blauem Schal“
Der im Sommer 2011 verstorbene Maler Lucian Freud gilt als einer der größten Porträtisten unserer Zeit. In seiner typischen, teilweise erschreckend-realistischen Malweise hat der Enkelsohn von Sigmund Freud bereits die Queen, die schwangere Kate Moss, aber auch zahlreiche Ganoven und Freunde der Londoner Unterwelt porträtiert. Seine Akte und Bildnisse thematisieren nicht selten den Verfall der körperlichen Existenz und sind Resultat monatelanger Sitzungen im Atelier des Künstlers. Der Kunstkritiker Martin Gayford hat sich über einen Zeitraum von insgesamt sieben Monaten und unzähligen langatmigen, frustrierenden und erhellenden Treffen von Lucian Freud porträtieren lassen. Seine ganz persönlichen Aufzeichnungen wurden nun in einem fantastischen Buch veröffentlicht.
Axel Braun | 03.04.2013

Unser Buch des Monats im April: „Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud. Ein Tagebuch“ von Martin Gayford
Über sieben Monate, vom 28. November 2003 bis zum 4. Juli 2004, sitzt der Journalist und Autor Martin Gayford dem britischen Maler Modell. Während dieser die Form seines Gesichts, die Beschaffenheit seiner Haut oder die Farbschattierungen seines Schals bis ins kleinste Details mustert, beobachtet, auf Leinwand überträgt und oftmals wieder verwirft, führt Gayford Tagebuch. Dabei dokumentiert er Freuds Arbeitsweise – und mindestens genauso spannend – seine eigene Erfahrung, Gegenstand dieser Arbeit und dieser intensiven Beobachtung zu sein.
Von Konzentration bis Frustration
Im abgedunkelten Atelier von Lucian Freud durchlebt Gayford gegensätzlichste Gemütszustände von Anspannung, Konzentration und fast meditativer Ruhe bis hin zu quälender Langsamkeit, Frustration und Langeweile – einer Ermattungsstrategie Freuds, nach der jeder vor lauter Erschöpfung irgendwann die Maske fallen lässt. Anschließend gehen die beiden in Restaurants oder auch ins Museum um sich noch einmal „in freier Wildbahn“ zu unterhalten und zu beobachten. Dabei und nebenbei plaudert Lucian Freud über sein bewegtes Leben, seine Freundschaft zum Maler Francis Bacon, seine mal mehr und mal weniger geschätzten britischen Künstlerkollegen, aber auch über seine Lieblingsmotive, sogar Lieblingstiere und immer wieder über seine Lieblingsmaler – die Alten Meister um Caravaggio, Goya oder Tizian. Das Bild, ein lediglich 51 Zentimeter breites und 66 Zentimeter hohes Schulterstück, wurde vergleichsweise schnell fertig: nach insgesamt vierzig Sitzungen endet die für Gayford als „gnadenlos intim“ beschriebene Zeit und wir erhalten nicht nur ein neues Werk Freuds sondern ein einzigartiges Buch über die hohe Kunst des Porträtierens.
Das übrigens auch ganz wunderbar gestaltete Tagebuch liest sich, Seite für Seite, spannend wie ein Roman. Eine beeindruckende Erzählung über die Kunst der Malerei, in der wir erfahren, was für ein Künstler – und auch was für ein Mensch – der 1922 in Berlin geboren Lucian Freud war.
Martin Gayford, Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud. Ein Tagebuch
aus dem Englischen übersetzt von Heike Reissig
2011 erschienen im Piet Meyer Verlag
Hardcover, 248 Seiten
ISBN 978-3-905799-11-8
28,40 Euro
erhältlich im Städel Museumsshop
Der Autor Axel Braun ist Leiter der Presseabteilung im Städel Museum. Bei der begeisterten Lektüre des Buches ist es ihm verhältnismäßig gut gelungen, still zu sitzen.
Im Städel Museum habt Ihr übrigens auch Gelegenheit ein Werk von Lucian Freud anzuschauen: Im Studiensaal der Graphischen Sammlung kann man sich die Druckgrafik Freuds „Large Head“, wie übrigens alle Werke aus der Graphischen Sammlung, zur genauen Betrachtung vorlegen lassen. Dies ist mittwochs und freitags von 14 bis 17 Uhr sowie donnerstags von 14 bis 19 Uhr möglich.
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