Victor Hugo; Ein befestigtes Schloss zwischen zwei Brücken; undatiert; © Maisons de Victor Hugo, Paris et Guernesey

Dunkle Nacht, Victor Hugo ist über sein Schreibpult gebeugt, vor ihm ein Stoß Papiere, vom Schein einer flackernden Kerze beleuchtet. Das Tintenfass steht offen, die Feder in der Hand des Franzosen ist vollgesogen. Aber der Tag war lang und der Kopf ist schwer. Zum reifen Wort will die Tinte in dieser Nacht nicht mehr werden. Ungehindert tropft sie auf einen Bogen weißen Büttenpapiers, auf dessen Fasern sich die dunkle Flüssigkeit wie ein Gerinnsel ihren Weg bahnt. Als der Schlafende aus seinem Dusel hochschreckt, hat sie bereits einen großen Fleck hinterlassen. Unversehens beginnt das schwarze Gebilde vor seinen Augen Form anzunehmen. Doch sie gibt sich nicht vollständig zu erkennen, also hilft Hugo nach. So oder so ähnlich mag es sich zugetragen haben, als Victor Hugo (1802–1885) begann, zeichnerisch mit dem Zufall zu experimentieren. Die fiktive Situation beschreibt einen Moment, den jeder kennt: Man blickt auf die gemaserten Strukturen eines Fliesenbodens und entdeckt darin unverhofft die urwüchsigsten Gestalten. Hugo forcierte diese menschliche Neigung zum Physiognomisieren, indem er sich seine Strukturen selbst schuf, um sie dann mittels weniger Handgriffe zu „beleben“. Aus wenigen, rasch hingeworfenen Strichen ließ er gekonnt ganze Landschaften entstehen. „Mit der Feder immer hin und her“ schreibt er neben eine Zeichnung, die aus wenigen, braun lavierten Tuschestrichen besteht. Auf das obere Drittel des Blattes setzt er eine waagerechte Linie – und so wird aus den scheinbar in einem Moment der Langweile entstandenen Tupfen plötzlich ein tosendes Meer und aus der Linie ein Horizont. Ein anderes Blatt ähnlicher Machart vervollkommnet er mit den Silhouetten zweier Segelboote und macht so aus einer völlig abstrakten Form ein schmuckes kleines Seestück.

Victor Hugo; Boote im Nebel; um 1856; © Privatsammlung, Courtesy Galerie Kruger & Cie, Genf

Mehr als 3500 Zeichnungen sind auf diese und andere Weisen entstanden – eine erstaunliche Zahl für jemanden, der sich in erster Linie als Dichter verstand. Sie zeigen Felsen, Burgen, Ruinen, Aquädukte oder unheimliche Fratzen – kurz: das ganze Bildvokabular eines Schwarzromantikers. In der Ausstellung „Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst“ widmet sich ein eigenes Kabinett dieser durchweg dunklen „Kritzeleien“, wie sie der Romancier selbst nannte. Für ihn waren sie nicht mehr als ein Nebenschauplatz. Das Zeichnen „hält mich zwischen zwei Versen bei Laune“, schreibt er in einem Brief an Baudelaire. Was er zwischen den Versen schuf, war nur seinem näheren Umfeld bekannt. Umso freier war der Autodidakt in seinem Tun, es war bar jeder akademischen Norm. Hugo maß sich an keinem Künstler, seinem Experimentiertrieb konnte er freien Lauf lassen. Er ahmte nichts nach, sondern suchte die Form im Formlosen, den Gegenstand im Ungegenständlichen.

Zu diesem Zweck war ihm jedes Mittel recht: So goss, blies oder spritzte er Tinte aufs Papier und wartete ab, welche Formen sie dort durch Drehen und Neigen des Blattes hinterließ. Nicht selten verrieb er die Farbe mit den Händen und experimentierte mit den eigenen Fingerabdrücken oder denen von Flaschenböden und Münzen. Letzte Sicherheit über das Dargestellte schuf dann erst ein einzelnes, gezielt gesetztes Detail oder die Bildunterschrift. Ungeahnte, filigrane Formen wie den „Kronleuchter“ erreichte er durch Klappdrucke, sogenannte Klecksographien. Dafür präparierte er ein Stück Papier mit Farbe und faltete es entlang einer Mittellinie. Die beim Ablösen der beiden Hälften entstandenen Resultate bearbeitete er, bis sie zur gewünschten Form gelangten.

Victor Hugo; Kronleuchter; um 1850–1857; © Marie-Anne Krugier-Poniatowski Collection

Dass Victor Hugo sich „zwischen zwei Versen“ nicht ausschließlich tropfend und klecksend betätigte, zeigen seine vedutenhaften Zeichnungen von Burgen und alten Häusern. Die deutschen Burgenlandschaften, denen er während mehrerer Reisen entlang des Rheins begegnete, beeinflussten nicht nur seine schriftstellerische Arbeit, wie etwa das Prosawerk „Le Rhin“.  Auch in seinem zeichnerischen Werk schlugen sich diese Eindrücke mehrfach nieder. Seine Ansichten fantastischer Architekturen inmitten düsterer Landschaften übertreffen bei weitem den Status einer Skizze oder Zeichenübung. Sie zeugen von solcher Originalität, dass sein Kollege Théophile Gautier zu der Überzeugung gelangte: „Wenn Victor Hugo kein Dichter wäre, wäre er ein Maler ersten Ranges.“ Und als hätte es Gautier bereits vorausgeahnt, welche Wege die Kunstgeschichte in den kommenden Jahrzehnten noch gehen würde: Hugo gehört letztlich insofern zum ersten Rang, als seine durch Zufall und Abstraktion geschaffenen Zeichnungen Entwicklungen vorwegnehmen, die sich im 20. Jahrhundert besonders im Surrealismus und Tachismus wiederfinden. Man könnte auch von Actionpaintings der ersten Stunde sprechen.