Rosso Fiorentino (Giovanni Battista di Jacopo) (1494–1540); Verso: Studie von Beinen, Knien und Armen, um 1520; Rote Kreide; Städel Museum, Frankfurt am Main; Foto: Städel Museum – Artothek

Faszinierend und abstoßend

Aus heutiger Sicht wirkt die Zeichnung merkwürdig fremd für ein Kunstwerk der Renaissance, einer Epoche, die gerade für ihr harmonisches und ausgewogenes Kunstverständnis bekannt ist. Das Blatt gehörte zur Sammlung von Johann Friedrich Städel (1728–1816), dem Stifter des Städelschen Kunstinstituts. Bei ihm galt die Zeichnung als Arbeit des berühmten und bewunderten Florentiner Künstlers Michelangelo Buonarroti (1475–1564). Diese Überzeugung beruhte vermutlich auf der Beobachtung, dass man Figuren auf der Vorderseite des Papierbogens – dem sogenannten Recto– gut mit Michelangelos Darstellungen von Propheten und Sibyllen in der Sixtinischen Kapelle in Rom vergleichen kann. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wurde auf dem Blatt sogar wie zur Authentifizierung der Name Michelangelos vermerkt. Man kann annehmen, dass dieses Urteil noch gültig war, als Johann Friedrich Städel die Zeichnung für seine Sammlung erwarb. Interessanterweise lässt sich auch feststellen, dass das Blatt irgendwann zum Warenlager eines Kunsthändlers gehörte. Seine Preisforderung in spanischen Reales wurde kurzerhand mit der Feder auf das Blatt geschrieben. Dabei ist die Währungseinheit abgekürzt angegeben.

Auf der anderen Seite des Blattes ist diese Zeichnung zu sehen: Rosso Fiorentino (Giovanni Battista di Jacopo) (1494–1540); Recto: Sitzende Frau mit Kindern (Caritas), um 1520; Feder in Braun, über schwarzem Stift (Kreide?), auf Papier, 381 x 259 mm; Städel Museum, Frankfurt am Main; Foto: Städel Museum – Artothek

Aber nicht von Michelangelo

Heute ist gut bekannt, wie Michelangelo mit der Feder und mit roter Kreide gezeichnet hat. Es ist auszuschließen, dass die Zeichnungen auf dem Recto und dem Verso des Frankfurter Papierbogens von ihm stammen. Bei genauem Hinsehen ist zu erkennen, dass die Darstellungen zuerst mit abstrakt wirkenden Kreidelinien umrissen sind. Die weitere Ausarbeitung erfolgte dann mit vielen, fast immer parallel nebeneinliegenden Striche, deren Färbung durch unterschiedlich starkes Aufdrücken verändert wurde. Im Zusammenspiel der Linien erhalten die drei Beindarstellungen in der Mitte ihre eigenwillige Form und eine glatte, wie gespannt scheinende Oberfläche. Nur bei tiefen Eindunklungen kommen kräftige, aber kurze Striche hinzu. Diese Zeichenweise lässt sich mit Arbeiten des Künstlers Giovanni Battista di Jacopo di Guaspare, genannt Rosso Fiorentino (1494–1540) verbinden. Rosso Fiorentino – ein Spitzname: Der Rote aus Florenz – wurde in Florenz ausgebildet und starb nach einem unsteten Leben in Fontainebleau in Frankreich. Auch gibt es motivische Übereinstimmungen mit Entwürfen von Rosso. Auf einem Altarbild hat er den Heiligen Hieronymus ganz analog bis auf die Knochen abgemagert dargestellt, wahrscheinlich, um das entbehrungsreiche Leben des Heiligen als Einsiedler anschaulich zu machen.

Die Preisforderung „4 Reales“ wurde kurzerhand mit der Feder auf das Blatt auf die verso-Seite oben links auf dem Kopf stehend geschrieben. Dabei ist die spanische Währungseinheit abgekürzt angegeben.

Anatomie oder Mumie

Die eigenartige Darstellung ist nicht in der Vorstellung Rosso Fiorentinos entstanden, sondern beruht auf unmittelbarer Beobachtung. Künstler der Renaissance gewannen ihr Wissen über die menschliche Anatomie, indem sie an Leichensektionen teilnahmen – berühmt sind die eingehenden Untersuchungen von Leonardo da Vinci (1452–1519). Ein Leichnam konnte aber auch mumifiziert werden, um als Anschauungsmaterial zu dienen. Vermutlich hat Rosso nach einer derartigen „getrockneten Anatomie“ gearbeitet, einer notomia secca, wie diese Präparate im Italienischen bezeichnet wurden. Hieraus erklärt sich, dass auf der Frankfurter Zeichnung die Haut nach Austrocknung der Muskel- und Bindegewebe straff gespannt unmittelbar auf den Knochen aufzuliegen scheint. Vielleicht hat Rosso aber die Kniegelenke übertreibend zu knorpelartigen Gebilden umgeformt.

Detail aus der „Studie von Beinen, Knien und Armen“ von Rosso Fiorentino.

Verfremdung und Überzeichnung

Rosso hat in seine Gemälde nicht nur skurrile Details in der Art der Frankfurter Studie übernommen, sondern seine Entwürfe auch in der Komposition und Farbigkeit ungewöhnlich exaltiert angelegt. Bewusst suchte er sich damit von dem klassischen Kunstverständnis der vorangehenden Generation abzusetzen und einen eigenen Stil zu finden. Mit einem kontrastreichen Kolorit und großem Detailreichtum steuert Rosso die beunruhigende, immer neu überwältigende Wirkung seiner Bilder. Seine Erfindungen besitzen aber auch eine hohe Eleganz, die 1532 seine Berufung zum einflussreichen Hofmaler des französischen Königs François I. begründet haben wird. Das neu zugeschriebene Frankfurter Studienblatt – eine der wenigen Zeichnungen des Künstlers – bereichert entscheidend die Kenntnisse über den Künstler, seinen Ansatz und seine Arbeitsweise.